Als Stanbury in ihr Leben trat — indem Leon Patricia heiratete —, bekam ihre Freundschaft eine weitere Dimension. Nun gab es einen Ort, an den sie sich zurückziehen konnten und die Tür vor der Welt verschließen. Stanbury wurde ihre Zuflucht. Ein Apartment in London oder ein Häuschen in einer belebten Feriengegend hätte nie diesen Stellenwert einnehmen können, aber Stanbury war wie… abseits der Welt. Yorkshire, ein kleines Dorf, von dem kaum ein Mensch je gehört hat, verwunschenes Brontë-Land, irgendwo im neunzehnten Jahrhundert stehengeblieben. In Stanbury war nichts mehr wirklich. Da war alles weit weg. Dort stärkten sie sich, dort beruhigten sie ihre Nerven, dort leckten sie ihre Wunden, dort übten sie sich im Verdrängen. Hat Alexander bei Ihnen auch so oft über die Stille von Stanbury gesprochen? Manchmal wollte ich von ihm wissen, warum wir nicht auch einmal woanders hinfahren können, und jedesmal antwortete er mir, daß er sich keinen Platz auf der Welt vorstellen könne, an dem er diese Stille finden würde. Es ging dabei nicht einfach um Ruhe, um Abgeschiedenheit. Die Stille von Stanbury war etwas Besonderes. Von Zeit zu Zeit empfand sogar ich es selbst so. Eine Stille, die etwas mit einer Unberührtheit zu tun hatte. Als bliebe die Welt draußen vor den Toren, respektvoll und unaufdringlich. Was meinen Sie, kann ein Ort einen solchen Zauber haben? Oder brachten wir ihn dorthin — besser gesagt: die drei Männer? War Stanbury still an sich, oder wurde es still durch uns? Ein Platz der Ruhe und des Vergessens. Das Tor fiel zu, und alles Böse der Vergangenheit, alles Bedrohliche der Zukunft rückte in weite Ferne.
Wobei dies natürlich in Wahrheit nur ein frommer Wunsch war. Denn nichts war in Ordnung, gar nichts, und die alten Mauern, der verwunschene Park, die endlose Einsamkeit dienten nur dazu, all das Unstimmige totzuschweigen. Was sage ich — das Unstimmige? Das trifft es nicht ganz. Es ging nicht um Unstimmiges. Sondern um allerlei Häßliches, Böses, Verdorbenes. Brutales und Widerwärtiges. Ja, darum ging es. Und vielleicht war die berühmte Stille von Stanbury nichts anderes als ein kollektives Totschweigen dessen, was man nicht hätte ertragen können, hätte man sich ihm gestellt. Tot und Schweigen. Wenn ich es mir richtig überlege, verbinde ich diese Begriffe weit eher mit der Erinnerung an Stanbury als den Begriff Stille.
Was alles nicht in Ordnung war? Wo soll ich anfangen? Bei dem Ehedesaster zwischen Leon und Patricia? Bei dem Ehedesaster zwischen Tim und Evelin? Bei dem Ehedesaster zwischen Alexander und mir? Leon hat Patricia geheiratet, weil sie schwanger wurde und weil sowohl ihre Eltern als auch seine daraufhin Druck machten. Auf dem Standesamt machte er ein Gesicht, als erwäge er, aus dem Fenster zu springen, und Patricia schaute drein, als habe sie eine Beute erlegt. Ich vermute, sie hatte frühzeitig beschlossen, einmal Anwaltsgattin zu werden, denn ein Mensch wie Patricia läßt sich nicht zufällig von irgend jemandem schwängern. Tim und Alexander versuchten Leon zu trösten, indem sie ihm einredeten, bald sei immerhin Stanbury auch sein Besitz und damit für sie alle uneingeschränkt zugänglich. Aber das war eine Sache. Die andere Sache war, Tag für Tag mit einer Frau wie Patricia leben zu müssen, mit ihren Ansprüchen und Forderungen, ihrem Ehrgeiz, ihrer eisernen Disziplin, ihrer Herrschsucht und eben all dem, was sie so unwiderstehlich machte. Leon hat Patricia ohne Ende betrogen, und dennoch war sie immer die Stärkere. Leon kam mir vor wie ein kleiner Junge, der völlig untergebuttert wird und dafür gelegentlich hinter dem Rücken seines Peinigers Grimassen schneidet und die Zunge herausstreckt. Patricia schien damit leben zu können, solange nach außen hin das Bild der perfekten Familie gewahrt wurde. Sie war eine Frau, der es hauptsächlich darum ging, vor ihrer Umwelt als makellos und unangreifbar dazustehen. Die Fassade mußte stimmen, das war ihr wichtig. Das Gebälk im Inneren konnte voller Würmer sein. Ich weiß nicht, was das alles letzten Endes mit Leon gemacht hat. Aber wissen Sie, was ich als erstes dachte, als ich von dem scheußlichen Verbrechen hörte? Ich dachte: Das war Leon. Er ist ausgerastet, und das ist weiß Gott kein Wunder.
Wenn man dann genauer nachdenkt, kann man es sich nicht vorstellen, aber eigentlich kann man sich so etwas von keinem
Menschen vorstellen, und doch muß es irgend jemand getan haben. Vielleicht ist die erste Intuition nicht die schlechteste. Aber vielleicht beharre ich jetzt auch nur darauf, weil ich solche Angst habe, daß Ricarda mehr damit zu tun hat, als man sich ausmalen möchte.
Und zwischen Tim und Evelin lief es natürlich auch furchtbar schief, im Grunde von Anfang an. Er hat sie bei einem Seminar kennengelernt, irgend etwas wie So werden Sie über Nacht ein selbstbewußter Mensch. Tim hatte gerade sein Diplom gemacht und stürzte sich mit Feuereifer ins Berufsleben, was bedeutete, er bot Kurse und Seminare mit eben Themen dieser Art an. Lief übrigens sofort ungemein erfolgreich, und Tim verdiente richtig viel Geld. Dieses guruhafte Äußere, das er hatte, wird von vielen Menschen als sehr vertrauenerweckend empfunden. Dazu diese etwas schleimige Art, mit der er gern in seine Patienten hineinkroch — manche glaubten offenbar, mit ihm dem Heilsbringer begegnet zu sein, der sie aus dem tagtäglichen Schlamassel ihres Daseins herausführen würde. Ich persönlich bezweifle, daß er jemals jemandem wirklich hat helfen können.
Jedenfalls saß da also auch Evelin unter den Teilnehmern und hoffte, etwas zu lernen, womit sie ihr schwaches Selbstwertgefühl aufbessern konnte. Kaum daß die beiden ein Paar waren, lernte ich sie kennen. Ich muß sagen, sie war bei weitem nicht so schlecht dran wie später, als sie dann mit Tim verheiratet war. Sie wirkte außerordentlich schüchtern und gehemmt, aber nicht depressiv, und sie war viel schlanker als später. Sie ging in eine psychotherapeutische Behandlung, die ihr recht guttat, und womöglich hatte sogar dieser Arzt den Anstoß dazu gegeben, daß sie sich zu Kursen wie dem von Tim anmeldete. Ist ja auch eine Möglichkeit, neue Menschen kennenzulernen und Kontaktschwächen zu überwinden. Er konnte nicht voraussehen, daß sie sich mit Tim liieren würde, was dann zum Verhängnis ihres Lebens wurde. Sie hat übrigens nie wirklich darüber gesprochen, weshalb sie seit frühester Jugend und dann über so viele Jahre psychotherapeutische Betreuung brauchte. Es gab ein paar Andeutungen, denen ich zu entnehmen meinte, daß sie eine ziemlich gewaltgeprägte Jugend hinter sich hat, aber Genaues weiß ich nicht. Es würde allerdings dazu passen, daß sie mit Tim erneut in einer Lebenskonstellation gelandet ist, in der Gewalt eine Rolle spielte. Physische wie psychische Gewalt. Verbal machte er sie so lange nieder, bis sie glaubte, der letzte Dreck zu sein und im Grunde meinte, ihm die Füße küssen zu müssen vor Dankbarkeit, daß er sich mit so etwas wie ihr überhaupt abgab. Ja, und dann ihre vielen Verletzungen, ihre blauen Flecken, ihre Prellungen… diese vielen Sportunfälle… Unsere tolpatschige Evelin! Schon wieder gestolpert, schon wieder unglücklich gefallen, schon wieder irgendwo dagegengerannt. Die neckischen Kommentare der anderen am Frühstückstisch… Soll ich Ihnen etwas sagen, Jessica? Jeder hat es gewußt. Jeder hat ganz genau gewußt, daß das keine Sportunfälle waren. Jeder hat gewußt, daß Evelin überhaupt keinen Sport macht. Ich habe es ein paarmal erlebt auf Stanbury, da haben Leon oder Alexander im Wohnzimmer die Stereoanlage lauter gedreht, wenn es oben in ihrem Zimmer zwischen Evelin und Tim losging. Ich meine nicht Sex. Ich meine, wenn er sie in den Bauch boxte oder ihr den Arm verdrehte oder ihr mit aller Kraft gegen das Schienbein trat. Wenn sie schrie. Da wurden sie zu den berühmten Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts sprechen. Die heilige Freundschaft. Tim war einer von ihnen. Sie gehörten zusammen. Sie pflegten ihre Stanbury-Idylle. Ein gewalttätiger Ehemann in ihren Reihen hätte alles zerstört. Also gab es ihn einfach nicht. Also war alles in Ordnung. Also hatte Evelin einfach Pech beim Sport.
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