Die Frau schnaubte. »Ich habe keine Anteilnahme verdient — nicht von Ihnen und auch sonst von niemandem.« Sie richtete ihren Blick auf Dóra. Erst sah sie erzürnt aus, schien sich dann aber zu entspannen. »Entschuldigen Sie. Ich bin nicht ganz bei mir.« Sie legte ihre Hände auf den Tisch und fingerte an ihren Ringen herum. »Ich weiß nicht, warum ich das Bedürfnis habe, mit Ihnen zu sprechen. Vielleicht, weil ich Sie nie wieder sehen werde. Vielleicht, weil ich mich rechtfertigen möchte.«
»Sie müssen mir das nicht erklären«, sagte Dóra. »Ich bin ein moderner Mensch und weiß, dass es oft andere Ursachen gibt, als man auf den ersten Blick annimmt.«
Die Frau lächelte müde. Sie war sehr sorgfältig geschminkt. Das Alter hatte zwar seine Spuren hinterlassen, aber sie war immer noch attraktiv. Ihre Schönheit war nach und nach einer gewissen Würde gewichen. Ihre Kleidung verstärkte diesen Eindruck noch. Dóra vermutete, dass das schwarze Kostüm und der Mantel mehr gekostet hatten, als sie in einem ganzen Jahr für Kleidung ausgab. »Harald war ein wunderbares Kind«, sagte die Frau entrückt. »Als er geboren wurde, waren wir überglücklich. Bernd kam zuerst; als er ungefähr zwei war, bekamen wir diesen wundervollen kleinen Jungen. Die nächsten Jahre bis zu Amelias Geburt waren himmlisch. Es lief alles so gut.«
»Sie war krank, nicht war?«, fragte Dóra. »War sie von Geburt an krank?«
Amelia Guntliebs Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war. »Nein. Sie war nicht von Geburt an krank. Sie war vollkommen gesund. Sie sah genauso aus wie ich, als ich klein war. Sie war wundervoll, wie alle meine Kinder — sie schlief viel und schrie nur ganz selten. Wundervolle Babys.« Dóra nickte nur, da sie nicht wusste, welcher Kommentar in dieser Situation angemessen war. In Frau Guntliebs Augen bildeten sich Tränen. »Harald …« Ihr brach die Stimme. Sie machte eine Pause und versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen. Mit einer raschen Handbewegung wischte sie die Tränen weg. »Ich habe außer mit meinem Mann und unserem Arzt noch nie mit jemandem darüber gesprochen.«
»Das alles ist nicht leicht«, sagte Dóra, obwohl sie nicht die geringste Ahnung davon hatte.
»Harald war eifersüchtig und gleichzeitig unheimlich stolz auf seine kleine Schwester. Er war über drei Jahre lang mein Nesthäkchen gewesen und es fiel ihm schwer, das neue Familienmitglied zu akzeptieren. Wir nahmen das nicht ernst, dachten, es ginge vorüber.« Jetzt rannen ihr Tränen über die Wangen. »Er ließ sie fallen, ließ sie auf den Boden fallen.« Sie verstummte und beobachtete wieder die Vögel.
»Er ließ das Baby auf den Boden fallen?«, fragte Dóra und versuchte, gefasst zu bleiben. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
»Sie war vier Monate und schlief in ihrer Wiege. Wir waren gerade vom Einkaufen zurückgekommen. Ich zog meinen Mantel aus und als ich mich umdrehte, stand Harald da und hielt sie im Arm. Nicht richtig im Arm. Er hielt sie wie ein Stofftier. Sie wachte natürlich auf und fing an zu weinen. Er schimpfte mit ihr und schüttelte sie. Ich rannte los, aber es war schon zu spät. Er schaute mich nur an und lachte. Dann ließ er sie fallen. Sie prallte auf die Fliesen.« Die Tränen strömten ihr übers Gesicht und hinterließen glänzende Striemen. »Ich konnte das Bild nie aus meinem Gedächtnis tilgen. Immer, wenn ich Harald anschaute, sah ich wieder diesen Gesichtsausdruck, den er hatte, als er sie fallen ließ.« Die Frau verstummte, sammelte sich und redete dann weiter. »Sie hatte einen Schädelbruch, fiel im Krankenhaus ins Koma und bekam eine Hirnhautentzündung. Sie war nie wieder dieselbe. Mein kleiner Engel.«
»Wurden Sie nicht verdächtigt, das Kind misshandelt zu haben? Hierzulande hätte man das untersucht.«
Amelias Gesichtsausdruck nach zu schließen, hielt sie Dóra für nicht ganz zurechnungsfähig. »So etwas mussten wir nicht über uns ergehen lassen. Unser Hausarzt unterstützte uns und die Ärzte, bei denen sie in Behandlung war, zeigten viel Verständnis. Harald wurde zu einem Psychologen geschickt, aber das hat nichts gebracht. Es gab keine Anzeichen für seelische Probleme. Er war einfach ein kleiner, eifersüchtiger Junge, der einen furchtbaren Fehler gemacht hatte.«
Dóra bezweifelte, dass sich dieses Ereignis als natürliche, kindliche Verhaltensweise einordnen ließ. Aber was wusste sie schon davon? »War sich Harald dessen bewusst oder hat er es mit der Zeit vergessen?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht. Ich habe nie mit ihm darüber gesprochen. Ich glaube schon, dass es ihm bewusst war — er war immer sehr lieb zu Amelia, bis sie endlich ihren Frieden fand und starb. Ich hatte immer das Gefühl, er versuchte es wieder gutzumachen.«
»Ihre Beziehung war also die ganzen Jahre davon überschattet?«, fragte Dóra.
»Es war keine Beziehung. Ich konnte ihn nicht anschauen und seine Anwesenheit nicht ertragen. Ich ging ihm einfach aus dem Weg. Sein Vater auch. Harald tat sich am Anfang schwer damit, er verstand nicht, warum seine Mama ihn nicht länger bei sich haben wollte. Dann gewöhnte er sich daran.« Sie hatte aufgehört zu weinen und ihr Gesicht hatte sich verhärtet. »Ich hätte ihm natürlich verzeihen müssen — aber ich konnte es einfach nicht. Vielleicht hätte ich psychologische Hilfe in Anspruch nehmen sollen, vielleicht wäre dann alles anders gekommen und Harald hätte sich anders entwickelt.«
»Wie war er denn?«, fragte Dóra und dachte an die Worte seiner Schwester. »Elisa sprach nur lobend von ihm.«
»Er war auf der Suche«, sagte die Frau. »So kann man es beschreiben. Er versuchte immer, die Zuneigung seines Vaters zu bekommen — was ihm nie gelang. Bei mir hat er viel früher aufgegeben. Zum Glück war ihm sein Großvater wohlgesinnt. Aber als er starb, verlor Harald den Boden unter den Füßen. Er studierte zu der Zeit in Berlin und begann mit Drogen zu experimentieren. Er spielte mit dem Tod. Einer seiner Freunde starb dabei. Dadurch sind wir dahintergekommen.«
»Haben Sie nicht versucht, irgendwie Zugang zu ihm zu finden?«, fragte Dóra, obwohl sie die Antwort schon wusste.
»Nein«, entgegnete die Frau kurz angebunden. »Harald hatte ein übersteigertes Interesse an allem entwickelt, was mit Hexerei zu tun hat, wie sein Großvater. Als Amelia starb, ging er zur Bundeswehr. Wir haben nicht versucht, ihn aufzuhalten. Diese Entscheidung stellte sich als fataler Fehler heraus — ich möchte nicht darüber sprechen, aber er musste schon nach einem Jahr seinen Dienst quittieren. Er hatte genug Geld von seinem Großvater geerbt und wir sahen ihn damals nicht oft. Als er beschloss, hierher zu gehen, nahm er Kontakt zu uns auf. Er rief an, um es uns mitzuteilen.«
Dóra schaute die Frau nachdenklich an. »Wenn Sie Verständnis suchen, sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Aber ich habe Mitleid mit Ihnen. Ich weiß nicht, wie ich mich selbst verhalten hätte — vielleicht genauso. Ich hoffe nicht.«
»Ich wäre so gern in der Lage gewesen, meine Beziehung zu Harald noch einmal ganz neu aufzubauen. Aber jetzt ist es zu spät und ich muss damit leben.«
»Sie dürfen nicht glauben, dass es mir Spaß macht, Sie noch mehr zu verletzten, aber ich muss Sie darauf hinweisen, dass Ihr Verhalten auch Einfluss auf andere hat. Ein junger Mann sitzt im Gefängnis, ein Medizinstudent und Freund von Harald. Ihn hat die Bekanntschaft mit Harald ins Unglück gestürzt.«
Die Frau schaute aus dem Fenster. »Was wird aus ihm?«
Dóra zuckte die Achseln. »Er wird voraussichtlich verurteilt, weil er den Fund der Leiche nicht angezeigt hat — und wegen Leichenschändung. Dafür wird er eine Weile ins Gefängnis müssen. Er wird sein Medizinstudium bestimmt nicht wieder aufnehmen können. Ich glaube, dass er die anderen aus der Clique deckt — wer weiß. Und ich vermute, dass Harald ihn in seinem Testament berücksichtigt hat. Das ist immerhin ein kleiner Trost.«
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