»Nein, nein. Ich meinte nur, Sie steuern jedes Mal zielstrebig auf heikle interne Angelegenheiten zu. Diese Geschichte gehört auch dazu.«
»Aha?«, sagte Dóra interessiert. »Ich dachte, die Geschichte sei lediglich für diese Bríet heikel. Wir haben gehört, dass sie sich ziemlich sonderbar verhalten hat, und deshalb fragen wir auch danach.«
»Bríet, ja. Stimmt genau, äußerst merkwürdig. Eigentlich haben wir es Harald zu verdanken, dass sie wieder zur Raison kam, bevor sie die Fakultät in eine sehr missliche Lage bringen konnte.« Gunnar löste seinen Krawattenknoten ein wenig.
»Aber worum ging es denn genau?«, fragte Dóra und musterte Gunnars Krawattennadel. Sie erinnerte sie an etwas.
Gunnar schielte ebenfalls auf seine Krawatte, verunsichert durch Dóras Blick. Sicherheitshalber strich er mit der Hand über die Krawatte, für den unwahrscheinlichen Fall, dass sich Krümel darauf befinden sollten. Dabei ritzte er sich an der scharfen Kante der Krawattennadel und zuckte zurück. »Wenn ich mich recht erinnere, beschlossen Harald und Bríet, eine Liste aller bekannten Quellen über Brynjólfur Sveinsson anzulegen. Die Aufgabe gehörte zu einem ihrer Seminare. Ich glaube, es war Haralds Idee, nicht Bríets. Sie hat sich ihm nur angeschlossen; sie hat sich bei den Hausarbeiten immer an andere drangehängt.«
»Hing das Thema irgendwie mit Haralds Masterarbeit zusammen?«, fragte Dóra. Wahrscheinlich wollte Harald untersuchen, ob Brynjólfur die Urschrift des Malleus Maleficarum besessen hatte.
»Nein, keineswegs«, antwortete Gunnar. »Anstatt die Seminararbeiten für die Vorbereitung seiner Masterarbeit zu nutzen, hat er sich mit allem Möglichen beschäftigt, sich in Themen vertieft, die zum Teil rein gar nichts mit der Hexenverfolgung zu tun hatten. Das galt allerdings nicht für Brynjólfur — er lebte im 17. Jahrhundert, wie Sie wissen.«
»Haben Sie diese Hausarbeit betreut?«, fragte Dóra.
»Nein, ich glaube, es war þorbjörn Ólafsson. Ich kann es nachschlagen, wenn Sie möchten.« Gunnar deutete auf den Computer auf seinem Tisch.
Dóra lehnte dankend ab. »Nein, das ist wahrscheinlich nicht nötig. Wenn Sie uns nur erzählen würden, was passiert ist. Das reicht uns im Moment. Wir sind etwas in Eile.«
Gunnar schaute auf seine Uhr. »Geht mir genauso — ich muss Maria den Brief bringen.« Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, hielt sich seine Vorfreude in Grenzen. »Die beiden gingen also in die wichtigsten städtischen Museen wie das Isländische Nationalarchiv, die Handschriftensammlung der Nationalbibliothek und weitere Institute, um alle Dokumente und Briefe aufzulisten, in denen der Bischof erwähnt wird. Soweit ich weiß, kamen sie gut voran, bis Bríet entdeckt zu haben glaubte, dass ein Brief aus dem Isländischen Nationalarchiv verschwunden war.«
»Wäre das nicht durchaus denkbar?«, fragte Dóra und warf einen Blick auf den Papierfetzen auf dem Tisch. »Ich meine, es wäre ja nicht das erste Mal.«
»Das kann durchaus sein, aber in diesem Fall handelte es sich lediglich um Schlamperei bei der Registrierung. Es ist zwar unklar, was mit dem Brief passiert ist, aber Bríet hat jemanden des Diebstahls bezichtigt, der in diesem Zusammenhang über jeglichen Verdacht erhaben ist.«
»Wen denn?«, fragte Dóra.
»Er sitzt vor Ihnen«, antwortete Gunnar und schwieg. Er schaute die beiden abwechselnd an. Sein Blick sollte sie wohl davon überzeugen, dass seine Unschuld nicht in Zweifel zu ziehen war.
»Ich verstehe«, sagte Dóra, schaute Gunnar fest an und fügte hinzu: »Entschuldigen Sie, wenn ich das frage, aber wie kam sie auf die Idee?«
»Wie schon gesagt, es gab Fehler bei der Registrierung. Demnach hätte ich den Brief als Letzter ausgeliehen, aber ich habe ihn nie angefasst. Entweder hat jemand meinen Namen verwendet oder die Einträge sind durcheinandergeraten. Brynjólfur Sveinsson interessiert mich nicht im Geringsten und ich wäre nie auf die Idee gekommen, Dokumente über ihn zu untersuchen. Noch verheerender war, dass das Mädchen versucht hat, die Situation auszunutzen: Sie hat mir doch glatt erklärt, sie würde schweigen, wenn ich ihr meine helfende Hand reichen würde; so hat sie es ausgedrückt. Ich habe mit Harald darüber gesprochen und er versprach, sie von dieser Dummheit abzubringen. Dann habe ich die Kollegen im Nationalarchiv kontaktiert und die Sache untersuchen lassen. Ich lasse mich doch nicht von irgendeinem Gör erpressen. Leider ließ sich der Fehler nicht ausfindig machen. Es war schon zu lange her, zehn Jahre oder so. Am Ende haben sie zugegeben, dass es sich um einen Fehler ihrerseits handelte, der Brief sei wahrscheinlich zusammen mit einem anderen Dokument abgelegt worden und würde früher oder später wieder auftauchen. Bríet war so schlau, die Sache auf sich beruhen zu lassen.«
»Was für ein Brief war das denn eigentlich?«, fragte Dóra. »Worum ging es darin, meine ich?«
»Der Brief stammt aus dem Jahr 1702 und war von einem Priester in Skálholt an den Handschriftensammler Árni Magnússon geschrieben worden. Es handelt sich um die Antwort auf Árnis Anfrage bezüglich eines Teils der ausländischen Handschriften aus dem Besitz von Brynjólfur Sveinsson, der 1675 verstorben war.«
»Und weiter?«, fragte Dóra. »Nichts über versteckte Handschriften, die man aus Skálholt wegschaffen wollte?«
Gunnar schaute sie konzentriert an. »Warum fragen Sie, obwohl Sie die Antwort schon wissen?«
»Was meinen Sie?«, entgegnete Dóra verwundert. »Ich weiß nichts weiter über diesen Brief, nur das, was Sie gerade erzählt haben.« Ihre Augen wanderten wieder zu Gunnars Krawattennadel. Was zum Teufel störte sie an dieser Nadel? Und worauf wollte der Mann hinaus?
»Was für ein wundersamer Zufall«, sagte Gunnar unwirsch. Er war offenbar der Meinung, Dóra wüsste mehr, als tatsächlich der Fall war. »Wir können dieses Versteckspiel ewig weiterspielen, wenn Sie möchten. In dem Brief gibt es eine Stelle, die man nie richtig deuten konnte, ein unverständlicher Abschnitt über einen wertvollen Gegenstand für einen dänischen Beamten, der beim alten Kreuz aufbewahrt sei. Die meisten glauben, dass damit das heilige Kreuz in der Kirche von Kaldaðarnes gemeint ist. Es wurde in der Reformation aufgrund des Reliquienverbots entfernt.«
»Sie wissen sehr viel über diesen Brief«, bemerkte Matthias, der bisher geschwiegen hatte. »Wenn man bedenkt, dass Sie ihn nie gesehen haben.«
»Selbstverständlich habe ich mich schlau gemacht, als diese Anschuldigungen gegen mich erhoben wurden«, entgegnete Gunnar gereizt. »Der Brief ist unter Historikern sehr bekannt und viele haben interessante Aufsätze über ihn geschrieben.«
Dóra starrte immer noch diskret auf Gunnars ungewöhnliche Krawattennadel, ziemlich ungleichmäßig geformt, offenbar aus Silber. »Woher haben Sie diese Nadel?«, fragte sie unvermittelt und zeigte auf die blaue, diagonal gestreifte Krawatte.
Gunnar und Matthias sahen sie verwundert an. Gunnar nahm die Krawatte und betrachtete die Nadel. Dann ließ er sie wieder los und wendete sich an Dóra. »Ich muss gestehen, ich weiß wirklich nicht, in welche Richtung sich unsere Unterredung bewegt. Aber wenn Sie es unbedingt wissen möchten, ich habe sie zu meinem fünfzigsten Geburtstag geschenkt bekommen.« Er stand auf. »Ich glaube, unser Gespräch ist hiermit beendet. Ich habe wirklich kein Interesse daran, mit Ihnen über meine Kleidung zu diskutieren. Ich habe ein unangenehmes Treffen mit der Direktorin des Árni-Magnússon-Instituts vor mir und keine Zeit mehr für diese Albernheiten. Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre Untersuchungen und rate Ihnen, sich an die Gegenwart zu halten. Die Vergangenheit hat nichts mit dem Mord an Harald zu tun.«
Er folgte ihnen zur Tür.
Читать дальше