»Wir wollen Sie nicht lange aufhalten«, erklärte Matthias. »Wir konnten die Sache eben nicht richtig zu Ende bringen.«
»Was?«, blaffte Gunnar. »Ich finde nicht, dass wir noch etwas zu besprechen haben.«
»Wir würden Sie aber gern noch nach ein paar ungeklärten Kleinigkeiten fragen«, sagte Dóra.
Gunnar lehnte den Kopf zurück und starrte in die Luft. Er stöhnte vernehmlich, bevor er sie wieder anschaute. »Na gut. Was möchten Sie wissen?«
Dóra blickte erst zu Matthias, dann zu Gunnar. »Das alte Kreuz, von dem in dem Brief an Árni Magnússon die Rede ist — könnte es sich dabei um das Kreuz in der Papar-Höhle in der Nähe von Hella handeln? Sie müssten sich in dieser Epoche doch perfekt auskennen, nicht wahr? Das Kreuz befand sich schon vor der eigentlichen Landnahmezeit in Island.«
Gunnar wurde dunkelrot. »Was soll ich darüber wissen?«, stieß er hervor.
Dóra zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, Sie wissen alles darüber. Auf dem Foto da, das sind doch Sie und der Bauer, dem das Land mit den Höhlen gehört?« Sie zeigte auf das gerahmte Foto an der Wand. »Die Höhlen der Papar.«
»Ja, richtig. Ich verstehe den Zusammenhang nicht ganz«, sagte Gunnar. »Sie stellen mir merkwürdige Fragen und interessieren sich auf einmal für Geschichte. Wenn Sie sich an der Uni einschreiben möchten — vorne im Empfang liegen die Antragsformulare.«
Dóra ließ sich nicht von seinen Worten beirren. »Ich glaube, Sie wissen ganz genau, wie das zusammenhängt. Sie waren bei dem Erasmus-Treffen, das an dem Mordabend bis Mitternacht gedauert hat.« Als Gunnar nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Haben Sie Harald an diesem Abend getroffen?«
»Was soll denn der Unsinn? Ich habe wiederholt bei der Polizei Aussagen zu Haralds verfrühtem Ableben gemacht. Ich war in der unglücklichen Lage, die Leiche zu finden, dafür kann ich nichts. Deshalb gehen Sie jetzt besser.« Zitternd zeigte er auf die Tür.
»Ich bin sicher, dass die Polizei die Protokolle noch einmal durchgehen wird, jetzt, wo klar ist, wie die Schändung der Leiche zustande gekommen ist«, sagte Dóra und lächelte Gunnar spöttisch an.
»Was meinen Sie?«, fragte Gunnar bebend.
»Die Polizei hat denjenigen ausfindig gemacht, der die Augen herausgeschnitten und die Rune in die Leiche geritzt hat. Ihr Schock beim Anblick der Leiche ist keine Versicherung mehr dafür, dass die Polizei Sie weiterhin mit Seidenhandschuhen anpacken wird. Nach der Aussage dieses Mannes sieht die Sache nämlich ganz anders aus.«
Gunnar rang nach Atem. »Sie hatten es doch eilig. Ich auch. Ich will Sie nicht länger aufhalten. Lassen wir es gut sein.«
»Sie haben ihn mit der Krawatte erwürgt«, sagte Dóra weiter. »Ihre Krawattennadel wird es beweisen.« Sie erhob sich. »Das Motiv wird schon noch ans Licht kommen, es spielt im Moment keine Rolle. Sie haben ihn umgebracht. Nicht Hugi, nicht Halldór und schon gar nicht Bríet. Sondern Sie.« Sie schaute ihm ins Gesicht und war zwischen Abscheu und Mitgefühl hin- und hergerissen. Gunnar bebte. Matthias stand langsam auf und schob Dóra ruhig mit der Hand rückwärts in Richtung Tür. Er befürchtete anscheinend, Gunnar könne mit erhobener Krawatte über den Schreibtisch springen und Dóra erwürgen.
»Sind Sie vollkommen verrückt geworden?«, fragte Gunnar und glotzte Dóra an. Er stand umständlich auf. »Wie kommen Sie darauf? Ich rate Ihnen, sich Hilfe zu suchen, und zwar so bald wie möglich.«
»Das ist kein Unsinn — Sie haben ihn ermordet. Wir haben verschiedene Beweise dafür. Glauben Sie mir. Wenn die Polizei die in die Hände bekommt und Sie verhört, werden Sie sich nur schwerlich herausreden können.«
»Das ist ausgeschlossen, ich habe ihn nicht ermordet.« Gunnar schaute Matthias nach Unterstützung suchend an.
»Die Polizei möchte sich vielleicht anhören, wie Sie es abstreiten — wir jedoch nicht.« Matthias verzog keine Miene. »Die Fakultät wird sicherlich bei der weiteren Untersuchung behilflich sein. Bei einer Hausdurchsuchung tauchen bestimmt noch andere Hinweise auf, falls die Krawattennadel nicht ausreichen sollte.«
Dóras Handy klingelte. Sie ließ Gunnar während des kurzen Telefonats nicht aus den Augen. Nervös verfolgte er das Gespräch, ohne den Zusammenhang zu verstehen. Dóra steckte das Handy wieder in ihre Tasche. »Das war die Polizei, Gunnar.«
»Und?«, frage er. Sein Adamsapfel hüpfte auf und nieder.
»Sie bitten mich, auf die Wache zu kommen. Sie haben bemerkenswerte Bewegungen auf Ihrem Konto festgestellt und möchten, dass Matthias und ich unseren Verdacht näher erläutern. Sieht ganz so aus, als hätte die Polizei es auf Sie abgesehen.« Sie verstummte und schaute ihn an.
Gunnar blickte ratlos von einem zum anderen. Dann nahm er seine Krawatte in die Hand und starrte auf die Nadel. Mehrmals öffnete er den Mund, als wolle er etwas sagen. Schließlich ließ er niedergeschlagen den Kopf hängen. »Suchen Sie das Geld?«, fragte er stotternd. »Ich hab nicht viel davon ausgegeben.« Er schaute die beiden an, aber sie reagierten nicht. »Ich hab auch das Buch, möchte es aber ungern aus der Hand geben. Es gehört mir. Ich hab’s gefunden.« Er legte verzweifelt seine Hand auf die Stirn. »Ich besitze sonst nichts Einzigartiges, Unschätzbares. Harald besaß alles, zumindest genug Geld. Warum konnte er nicht etwas anderes begehren?«
»Gunnar, ich glaube, wir sollten die Polizei anrufen«, sagte Dóra mit leiser, schmeichelnder Stimme. »Sie müssen uns nicht mehr erzählen — sparen Sie ihre Kräfte.« Sie sah, wie Matthias sein Handy herausholte. »Hundertzwölf«, sagte sie zu ihm. Gunnar beachtete sie nicht weiter. Matthias ging ein paar Schritte zur Seite, um zu telefonieren.
»Während des Verhörs habe ich die ganze Zeit damit gerechnet, dass die Polizei mich des Mordes bezichtigt. Ich war davon überzeugt, dass sie mir etwas vorspielen, so tun, als wüssten sie nicht, dass ich ihn umgebracht habe. Dann stellte sich heraus, dass sie mich noch nicht mal in Verdacht hatten.« Er schaute auf und lächelte matt. »Ich hätte ihnen dieses Entsetzen, das mich ergriff, als mir die Leiche in die Arme fiel, unmöglich vorgaukeln können. Als ich die Leiche zum letzten Mal gesehen hatte, lag sie noch auf dem Fußboden im Studentenzimmer. Einen Moment lang dachte ich, Harald sei von den Toten wiederauferstanden, um sich an mir zu rächen. Sie müssen mir glauben, dass ich nichts mit den Augen gemacht habe. Ich hab ihn nur erwürgt.«
»Das genügt ja auch«, sagte Dóra. »Aber warum? Weil er Ihnen das Manuskript des Hexenhammers abkaufen wollte? Hatten Sie es?«
Gunnar nickte. »Ich hatte es in der Höhle gefunden. Während eines Forschungsaufenthaltes hatte ich mich mit den Papar beschäftigt. Der Bauer erlaubte mir, Ausgrabungen zu machen. Ich wollte Überreste finden, Beweise, dass die Papar diese Höhlen gebaut hatten. Sie waren vorher noch nie erforscht worden — das ist jetzt zwanzig Jahre her. Bis dahin war nur ein anderer Teil der Ægisíða-Höhlen untersucht worden. Bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts wurde in den Höhlen ja noch Vieh untergebracht. Aber anstatt menschliche Überreste aus der Zeit vor der Landnahme zu finden, entdeckte ich ein kleines Kästchen. Es war beim Altar vergraben. Darin befanden sich dieses Manuskript und noch ein paar andere Dinge. Eine handgeschriebene dänische Bibel, ein Psalmenbuch und zwei außerordentlich schöne, naturwissenschaftliche norwegische Bücher.« Er schaute Dóra tief in die Augen. »Ich konnte nicht widerstehen. Ich hab das Kästchen mit ins Auto genommen, bevor der Bauer mich überraschen und jemandem davon erzählen konnte. Nach und nach wurde mir klar, was für Schätze ich in der Hand hielt. Sie stammten aus dem Besitz von Skálholt. Zwei der Bücher waren mit Brynjólfurs Monogramm gekennzeichnet — LL. Erst als Harald auftauchte, bekam ich eine Erklärung für diese merkwürdige Ausgabe des Hexenhammers. «
Читать дальше