Das letzte Dokument in diesem Abschnitt war eine ausgedruckte E-Mail mit dem Absender hguntlieb@hi.is, offensichtlich Haralds E-Mail-Adresse an der Uni. Die Mail war an seinen Vater geschrieben, datiert kurz nach Haralds Studienbeginn im Herbst 2004. Dóra war entsetzt, wie distanziert der Text klang. Harald sei sehr zufrieden in Island, er habe eine passende Wohnung gemietet usw. Die Mail endete mit der Mitteilung, dass Harald einen Betreuer für seine Masterarbeit gefunden habe, Professor þorbjörn Ólafsson. In der Arbeit solle es um einen Vergleich der Hexenverbrennungen in Island und Deutschland gehen, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass in Island fast ausschließlich Männer der Hexerei bezichtigt wurden, im Gegensatz zu Deutschland, wo die Frauen in der Überzahl waren. Der Brief endete mit einem Gruß und es zog Dóra das Herz zusammen, als sie das PS las. Dort stand: »Wenn du daran interessiert bist, in Kontakt zu bleiben, hast du hiermit meine E-Mail-Adresse.« Klang nicht sehr liebevoll. Vielleicht hatte Haralds Austritt aus der Bundeswehr etwas mit diesem schlechten Verhältnis zu tun. Sein Vater sah, den Fotos nach zu urteilen, nicht besonders verständnisvoll aus und war bestimmt nicht glücklich über einen Sohn, der den Erwartungen nicht gerecht wurde.
Die nächste Seite bestand aus einer kurzen Antwort des Vaters, ebenfalls eine ausgedruckte E-Mail. Sie lautete: »Lieber Harald, ich rate dir, dich von diesem Examensthema fern zu halten. Es ist schlecht und eignet sich nicht zur Formung des Charakters. Geh sparsam mit deinem Geld um. Gruß«, und darunter befand sich eine standardisierte Computersignatur mit dem vollen Namen des Vaters, seiner Position und seiner Adresse. Tatsächlich, dachte Dóra, was für ein Kotzbrocken! Kein Wort darüber, dass er sich freue, von seinem Sohn zu hören oder ihn vermisse, geschweige denn ein »Papa« oder etwas Ähnliches als Unterschrift. Außerdem war es merkwürdig, dass keiner der beiden Grüße von oder an die Mutter oder die jüngere Schwester übermittelt hatte. Dóra wusste nicht, ob Vater und Sohn einander weitere frostige E-Mails geschrieben hatten; zumindest befanden sich keine in der Mappe.
Dóra überflog zum Schluss noch eine Liste, in der sie ganz am Ende auf etwas Bemerkenswertes stieß: Malleus Maleficarum — Verein der Geschichts- und Völkerkundeinteressierten. Dóra schaute von ihrer Lektüre auf. Das war derselbe Name wie auf der Kopie des Gründungstreffens im Abschnitt über die Uni München. Dóra blätterte sicherheitshalber zurück. Bingo! Unter dem Namen des Vereins auf der isländischen Liste war mit Bleistift notiert: gegründet 2004. Vielleicht hatte Harald die Gründung des Vereins initiiert? Das war nicht unwahrscheinlich, es sei denn, dieses Malleus Maleficarum wäre etwas ganz und gar Typisches für die geschichts- und völkerkundlichen Fächer. Es konnte natürlich alles Mögliche bedeuten; Dóra hatte kein Latein gelernt. Sie blätterte weiter zum Kapitel mit den Kontoauszügen.
Harald Guntlieb verfügte über ein ungeheures Vermögen, von dem laut des letzten Kontoauszugs allerdings nicht mehr viel übrig war. Jemand hatte hohe Auszahlungen hellrot und hohe Einzahlungen gelb angemarkert. Dóra stellte schnell fest, dass die gelb markierten Summen immer gleich hoch waren und immer zum Monatsanfang eingezahlt worden waren. Das war ein hübsches Sümmchen, mehr als Dóra in einem halben Jahr verdiente — wenn viel zu tun war. Es mussten Zahlungen aus dem Fonds sein, den Harald laut Matthias’ Aussage von seinem Großvater geerbt hatte. Wahrscheinlich war die Erbschaft auf regelmäßige Überweisungen an Harald ausgelegt, anstatt ihm alles auf einen Schlag zu überlassen. Harald Guntlieb galt offenbar als nicht sehr verantwortungsbewusst. Dóra rechnete aus, dass er bei seinem Tod 27 Jahre alt gewesen war — und immer noch nicht über sein Vermögen hatte bestimmen dürfen. Dennoch hatte sich bis vor einiger Zeit eine so beträchtliche Summe auf dem Konto angesammelt, dass Haralds Lebenshaltungskosten weit unter dem Betrag gelegen haben mussten, der ihm jeden Monat zur Verfügung stand.
Mit den markierten Auszahlungen verhielt es sich jedoch anders. Sie waren unterschiedlich hoch und, soweit Dóra sehen konnte, nicht in regelmäßigen Abständen getätigt worden. Neben den meisten standen Anmerkungen, und da es nicht sehr viele waren, überflog Dóra sie. Einige Notizen waren unmittelbar verständlich, beispielsweise stand BMW neben einer hohen Auszahlung Anfang August 2004. Harald hatte sich wohl in Island ein Auto gekauft. Andere waren völlig unverständlich. Urteil G.G. stand etwa neben einer beträchtlichen Auszahlung während Haralds Studienzeit in München. Dóra kannte das Wort Urteil und kam auf die Idee, Harald könne jemanden dafür bezahlt haben, die Umstände seines Austritts aus der Bundeswehr zu vertuschen. Das Datum passte allerdings überhaupt nicht und sie hatte keine Ahnung, was G.G. bedeuten könnte. Neben weiteren Auszahlungen stand Schädel und Gestell; das letzte Wort kannte sie nicht. Und noch zwei Zahlungsvorgänge erregten ihre Aufmerksamkeit: Neben der einen, die schon ein paar Jahre alt war und 42000 Euro betrug, stand schon wieder dieser lateinische Begriff Malleus Maleficarum. Neben der anderen, die jüngeren Datums und höher war, stand ein Fragezeichen. Das war wahrscheinlich das Geld, von dem Matthias glaubte, es sei verschwunden, ungefähr 310000 Euro. Nach Dóras Rechnung waren das über 25 Millionen Kronen. Kein Wunder, dass Matthias bezweifelte, das Geld sei für Drogenkäufe draufgegangen. Da hätte der Junge sich ganz schön ranhalten müssen, selbst in Gesellschaft von Keith Richards. Dóra blätterte durch die Aufstellung der Zahlungen mit Haralds Kreditkarte in dem Monat vor seinem Tod. Sie überflog die Liste und sah, dass die meisten Ausgaben in Restaurants und Kneipen, einige auch in Klamottenläden getätigt worden waren, in Supermärkten auffallend selten. Die Restaurants waren alle »hip«, wie ihre Freundin Laufey es ausdrücken würde. Dóra stieß auf eine hohe Zahlung Mitte September an das Hótel Rangá, auf eine Zahlung mit der Anmerkung Flugschule sowie auf eine wesentlich niedrigere Summe Ende September — sehr zu ihrem Erstaunen an den Tierpark. Des Weiteren gab es viele kleine Zahlungen an eine Tierhandlung in der Stadt. Vielleicht war Harald ein Tierfreund oder hatte mit einer allein erziehenden Mutter angebandelt. Ein weiterer Punkt, den sie mit Matthias besprechen musste. Das Kapitel über Haralds Finanzen endete mit dieser Liste. Dóra schaute auf die Uhr und sah, dass sie gut in der Zeit lag.
Sie beschloss, die Mappe einen Moment zur Seite zu legen, drehte sich zum Computer und suchte im Internet nach »Malleus Maleficarum«. Das Suchergebnis zeigte über 340000 Seiten an. Sie stieß sofort auf eine inhaltlich viel versprechende Seite, aus der hervorging, der Begriff bedeute »Hexenhammer« und sei der Titel eines Buches aus dem 15. Jahrhundert. Dóra wählte einen Link, ein englischer Text erschien auf dem Bildschirm. Die Seite war mit einer alten Zeichnung illustriert, auf der eine Frau in einem Umhang an eine Leiter gefesselt war. Zwei Männer mühten sich, die Leiter aufzurichten und sie mitsamt der Frau auf einen großen Scheiterhaufen zu stoßen, der daneben loderte. Die Frau sollte offenbar bei lebendigem Leib verbrannt werden. Sie blickte mit geöffnetem Mund zum Himmel. Dóra war sich nicht sicher, was der Künstler im Sinn gehabt hatte: Entweder sie rief Gott um Gnade an oder sie verfluchte ihn. Ihre Verzweiflung war jedenfalls eindeutig. Dóra druckte die Seite aus und verließ das Zimmer, um sie aus dem Drucker zu holen, bevor Bella sie entdeckte. Dem Mädchen war alles zuzutrauen.
Im Drucker lagen fünf Seiten anstelle von einer, wie Dóra erwartet hatte. Die Homepage beinhaltete offenbar wesentlich mehr Informationen, als auf dem Bildschirm ersichtlich war. Dóra begann auf dem Weg zurück in ihr Büro zu lesen.
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