»Ich kümmere mich um Sicherheitsfragen der Bank. Das beinhaltet unter anderem die Überprüfung der Lebensläufe zukünftiger Mitarbeiter und die Kontrolle verschiedener Sicherheitsbestimmungen in der Firma und bei den Finanzgeschäften.«
»Dabei haben Sie wohl kaum mit Drogen zu tun?«
»Nein. Damit meinte ich meinen vorherigen Job. Ich war zwölf Jahre lang bei der Münchner Kriminalpolizei.« Er schaute ihr direkt ins Gesicht. »Ich weiß einiges über Mordfälle und habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass bei dieser Morduntersuchung geschlampt wurde. Ich musste den Ermittlungsleiter nur ein paar Mal treffen, um festzustellen, dass er keinen blassen Schimmer davon hat, was er tut.«
»Wie heißt er?«
Dóra verstand, wen er meinte, obwohl seine Aussprache ziemlich merkwürdig war. Árni Bjarnason. Sie seufzte. »Ich kenne ihn von anderen Fällen. Er ist ein furchtbarer Idiot. Wirklich ungeschickt, ihm die Ermittlung zu übergeben.«
»Es gibt auch noch andere Gründe, warum die Familie glaubt, dass der Drogendealer nichts mit dieser grausamen Tat zu tun hat.«
Dóra schaute auf. »Und welche Gründe sind das?«
»Kurz vor seinem Tod hat Harald eine große Summe Geld von einem Bankkonto abgehoben, das auf seinen Namen läuft. Man hat nicht herausgefunden, was mit dem Geld passiert ist. Es war wesentlich mehr, als Harald für Drogen gebraucht hätte, selbst wenn er sich die nächsten Jahre hätte zudröhnen wollen.«
»War er vielleicht in Drogentransporte verwickelt?«, fragte Dóra und fügte hinzu: »Finanzierung von Drogenschmuggel oder so was?«
Matthias schnaubte. »Ausgeschlossen. Harald brauchte kein Geld. Er war sehr wohlhabend. Sein Großvater hat ihm ein Vermögen vererbt.«
»Ich verstehe.«
»Die Polizei konnte nicht beweisen, dass der Dealer Geld entgegengenommen hat. Das Einzige, was man über Haralds Verbindung zur Drogenszene herausgefunden hat, ist, dass er ab und zu Haschisch gekauft hat.«
Das Essen wurde serviert und sie aßen schweigend. Dóra war ein bisschen verlegen. Mit diesem Mann konnte man nicht gut schweigen. Andererseits hatte Smalltalk ihr nie gelegen, selbst wenn die Stille beklemmend war. Deshalb beschloss sie, lieber den Mund zu halten.
Sie bestellten Kaffee und kurz darauf wurden zwei dampfende Tassen, eine Zuckerdose und ein silbernes Milchkännchen an den Tisch gebracht.
Dóra nippte an ihrem Kaffee und unterbrach dann die Stille. »Haben Sie einen Vertrag, den ich mir anschauen kann?«
Der Mann reckte sich nach einer Aktentasche, die auf dem Stuhl lag, und holte eine dünne Mappe hervor. Er reichte sie Dóra über den Tisch. »Nehmen Sie den Vertrag mit. Wir können morgen die Punkte durchgehen, die Sie ändern wollen. Ich gebe Ihre Anmerkungen dann an Familie Guntlieb weiter. Es ist ein fairer Vertrag und ich glaube nicht, dass Sie viel daran ändern möchten.« Er bückte sich erneut und holte eine zweite, dickere Mappe hervor, die er zwischen sie auf den Tisch legte. »Nehmen Sie das auch mit. Das ist die Mappe, die ich eben erwähnt habe. Es wäre mir wichtig, dass Sie die Unterlagen durchsehen, bevor Sie sich entscheiden. Der Fall hat sehr unangenehme Seiten und ich möchte, dass Ihnen das vorher klar ist.«
»Glauben Sie, damit würde ich nicht zurechtkommen?«, fragte Dóra ein klein wenig beleidigt.
»Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Deshalb bitte ich Sie, die Mappe durchzusehen. Darin befinden sich ziemlich unappetitliche Fotos vom Tatort und alle möglichen Erläuterungen, die auch nicht unbedingt nett sind. Es ist mir gelungen, mit Hilfe einer Person, deren Namen ich nicht nennen möchte, an verschiedene Beweisstücke zu kommen.«
Er legte seine Hand auf die Mappe.
»Hier drin sind auch Informationen über Haralds Leben. Sie sind streng vertraulich und nichts für zart Besaitete. Ich vertraue darauf, dass Sie diese Fakten für sich behalten, falls Sie beschließen sollten, den Fall nicht anzunehmen. Die Familie möchte nicht, dass das hier an die Öffentlichkeit gelangt.«
Er nahm die Hand von der Mappe und schaute Dóra in die Augen. »Ich möchte das Unglück der Familie nicht noch verschlimmern.«
»Ich verstehe«, antwortete Dóra. »Ich kann Ihnen versichern, dass ich nicht über meine Arbeit … tratsche.« Sie fixierte ihn und fügte bestimmt hinzu: »Niemals.«
»Gut.«
»Aber da Sie all dies schon zusammengetragen haben — wofür brauchen Sie mich da noch? Sie scheinen Zugang zu Informationen zu haben, die ich sicher nicht bekommen würde.«
»Möchten Sie wissen, warum wir Sie brauchen?«
»Ich glaube, das habe ich gerade gesagt«, konterte Dóra.
Er atmete hektisch durch die Nase. »Ich will Ihnen sagen, warum. Ich bin Ausländer in diesem Land und außerdem Deutscher. Wir müssen mit verschiedenen Leuten sprechen, die mir niemals etwas Wichtiges anvertrauen würden. Ich habe nur ein bisschen an der Oberfläche gekratzt und die meisten Informationen über Haralds Privatleben in Deutschland erhalten. Ich bin kein Mann, mit dem man gern über unangenehme und heikle Privatangelegenheiten spricht.«
»Ja, das ist mir klar«, rutschte es Dóra heraus.
Der Mann lächelte zum ersten Mal. Es überraschte Dóra, wie schön sein Lächeln war, offen und ehrlich, trotz seiner unnatürlich weißen, geraden Zähne. Sie musste zurücklächeln, fügte dann aber irritiert hinzu: »Über welche unangenehmen Dinge soll ich denn mit den Leuten reden?«
Sein Lächeln verschwand so schnell, wie es erschienen war. »Sexuelle Würgespiele, Folter, Okkultismus, Misshandlungen des eigenen Körpers und andere abnorme Verhaltensweisen ernsthaft geschädigter Personen.«
Dóra erstarrte. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, worauf das alles hinausläuft.« Von sexuellen Würgespielen hatte sie noch nie etwas gehört — wenn Würgespiele etwas mit erwürgen zu tun hatten, dann würde sie nichtsexuelle Spiele vorziehen, die einzigen, die sie zurzeit praktizierte.
Als sein Lächeln zum zweiten Mal erschien, war es nicht mehr ganz so charmant wie zuvor. »Oh, das werden Sie schon noch herausfinden. Haben Sie da mal keine Sorge.«
Sie tranken ihren Kaffee, ohne weitere Worte zu wechseln, und dann nahm Dóra die Mappe und machte sich bereit, wieder zurück in die Kanzlei zu gehen. Sie verabredeten sich für den darauffolgenden Tag und verabschiedeten sich.
Als Dóra gerade den Tisch verlassen wollte, legte er seine Hand auf ihren Arm.
»Noch eine Sache, Frau Guðmundsdóttir.«
Sie drehte sich um.
»Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, warum ich davon überzeugt bin, dass der Mann, den die Polizei verhaftet hat, nicht der Mörder ist.«
»Warum?«
»Man hat Haralds Augen nicht bei ihm gefunden.«
Dóra hatte normalerweise keine Angst vor Taschendieben, aber auf dem Rückweg von ihrer Besprechung mit Matthias hielt sie ihre Tasche fest umklammert. Sie wollte sich nicht ausmalen, wie es wäre, den Mann anrufen und ihm mitzuteilen zu müssen, die Unterlagen seien gestohlen worden. Sie war froh, als sie die Tür zur Anwaltskanzlei öffnete.
Schwerer Zigarettenqualm schlug ihr entgegen. »Bella, du weißt doch, dass hier Rauchverbot ist.«
Bella hechtete vom Fenster weg und ließ hektisch etwas fallen. »Ich hab nicht geraucht.« Während sie dies sagte, kräuselte sich ein sehr schmaler Rauchstreifen aus ihrem Mundwinkel.
Dóra stöhnte innerlich. »Ach so, dann steht wohl nur dein Mund in Flammen. Mach das Fenster zu und rauch in der Kaffeestube. Das ist gesünder, als aus dem Fenster zu hängen.«
»Ich hab nicht geraucht, ich hab Tauben vom Fensterbrett verscheucht«, protestierte Bella beleidigt. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, ohne Dóra anzuschauen.
Dóra beschloss, es gut sein zu lassen. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass es wenig Sinn hatte, sich mit dem Mädchen zu streiten. Sie ging in ihr Büro und schloss die Tür.
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