Malleus Maleficarum war keineswegs Unterhaltungslektüre, aber der beklemmende Text hatte Dóras Aufmerksamkeit gefesselt. Sie hatte das Buch nicht von vorn bis hinten durchgelesen; der erste und zweite Teil waren zu wirr, um sie an einem Stück lesen zu können. Die Grundlage des Buches waren Fragen und Behauptungen über Hexerei. Sie standen am Anfang eines jeden Kapitels oder Absatzes, und die darauf folgende Antwort oder Erläuterung bestand aus merkwürdigen, nicht nachvollziehbaren, religiösen Argumenten.
Die Geschichten und Beschreibungen der Hexen waren schier unglaublich. Ihre Kräfte schienen grenzenlos zu sein — sie konnten unter anderem nach Belieben Unwetter auslösen, fliegen, Männer in Bullen oder andere Tiere verwandeln, Impotenz herbeiführen und männliche Geschlechtsorgane vom Körper trennen.
In einer langen Passage wurde die Frage erörtert, ob es sich bei der Abtrennung des Geschlechtsteils um eine Halluzination oder eine tatsächliche Amputation handelte. Um die beschriebenen Kräfte entwickeln zu können, mussten die Hexen verschiedene Rituale ausführen, zum Beispiel Kinder kochen oder essen und Geschlechtsverkehr mit dem Teufel vollziehen. Dóra war zwar in Psychologie nicht besonders bewandert, aber bei der Lektüre wurde ihr klar, wie sehr der Zölibat, dem die Autoren als Mönche unterlagen, sie geplagt haben musste. Ihre Verbitterung kam vor allem bei der Beschreibung von Frauen zum Ausdruck. Eine Geschichte war abstoßender als die andere und Dóra hatte bald genug. Die Argumente für das unzüchtige und teuflische Wesen der Frauen waren vollkommen abwegig. Unter anderem wurde es darauf zurückgeführt, dass die Rippe Adams, aus der Gott die erste Frau schuf, nach innen gebogen war — dies hatte angeblich folgenschwere Konsequenzen. Die Frau wäre demnach vollkommen gewesen, wenn Gott einen Oberschenkelknochen verwendet hätte. All dies wurde angeführt, um den Leser von der Verführbarkeit der Frauen durch den Teufel zu überzeugen. Infolgedessen seien die meisten Zauberkundigen weiblichen Geschlechts. Die armen Leute bekamen ebenfalls ihren Teil ab — sie neigten angeblich eher zum Lügen und waren schlechtere Menschen als reiche Leute. Dóra wollte sich lieber nicht vorstellen, wie es gewesen sein musste, zu jener Zeit eine arme Frau zu sein.
Am interessantesten fand sie den dritten und letzten Teil des Buches, in dem es um die juristische Seite bei der Ermittlung und der Verteidigung von Hexen ging. Als Rechtsanwältin schockierten sie die Scheußlichkeiten, die unter anderem darin bestanden, den Angeklagten einzureden, sie kämen im Falle eines Geständnisses mit dem Leben davon. Im Anschluss wurden drei verschiedene Wege aufgezeigt, wie man das zuvor getätigte Versprechen umgehen konnte, ohne gegen das Gesetz zu verstoßen. Bei der Beschreibung der Verhaftung wurde betont, wie wichtig es sei, dass die Füße der Hexen auf dem Weg ins Gefängnis nicht den Boden berührten — sie sollten auf Bahren dorthin getragen werden. Andernfalls könne ihnen der Teufel Kraft einflößen, wodurch sie in der Lage wären, die Beschuldigungen unendlich lange abzustreiten. Bei der Ankunft im Gefängnis sollten die Frauen durchsucht werden, denn sie trügen oft Kraft spendende Gegenstände aus den Knochen kleiner Kinder bei sich. Zudem wurde angeraten, ihnen das Haar abzurasieren, da sie darin ebenfalls derartige Knochen verstecken könnten. Des Weiteren wurde darüber diskutiert, ob die Rasur auch die Schamhaare mit einbeziehen sollte. Dann wurden Möglichkeiten zur Erschwerung der Verteidigung vorgestellt. Beispielsweise wurde vorgeschlagen, dem Verteidiger die Zeugenaussagen auf zwei verschiedenen Blättern auszuhändigen — auf dem einen stünden die Aussagen und auf dem anderen die Namen der Zeugen, sodass der Verteidiger unmöglich feststellen könnte, wer welche Zeugenaussage gemacht hatte. Dies galt natürlich nur für den Fall, dass der Angeklagten die Zeugenaussage vorgelesen würde — was nicht immer gestattet war. Lang und breit wurde erklärt, wann dies legitim sei und wann nicht. Jeder durfte als Zeuge aussagen, im Gegensatz zu anderen Prozessen, bei denen Leute mit schlechtem Leumund als unglaubwürdig abgelehnt wurden.
Im Folgenden wurde beschrieben, wie die Folter vonstatten gehen, wie lange sie dauern und auf welche Weise regelmäßig kontrolliert werden sollte, ob die Gefolterte in Anwesenheit eines Richters auf der Folterbank Tränen vergießen konnte — dies sei möglicherweise ein Zeichen ihrer Unschuld. Allerdings wurde der Einwand erhoben, Frauen täuschten Tränen oftmals mit Spucke vor. Wahrscheinlich hatten die armen Menschen nach der Folter einfach keine Tränen mehr übrig, wenn der Richter und seine Gefolgschaft eintrafen und ihnen befahlen zu weinen. Alles lief darauf hinaus, Geständnisse zu erzwingen. Diese Art von erfundenen Geständnissen wurde in den beiden ersten Teilen des Buches beschrieben. Sie sollten das teuflische Wesen der Hexen verdeutlichen. Wer mit gesundem Menschenverstand an die Lektüre heranging, dem war klar, dass diese Geständnisse völlig wertlos waren. Sie wurden durch Folter erzwungen und nur heruntergeleiert, um den Henker zu besänftigen und dem eigenen Leiden ein Ende zu bereiten.
Dóra riss sich zusammen und setzte sich im Bett auf. Sie schielte zu ihrem Nachttisch, auf dem das grausame Buch lag. Durch den einzigen positiven Gedanken, den die Lektüre hervorgerufen hatte, versuchte sie sich aufzuheitern — die Menschheit hatte sich seit der Zeit um 1500 weiterentwickelt. Dóra quälte sich auf die Beine und unter die Dusche. Auf dem Weg dorthin klopfte sie an die Zimmertür ihres Sohnes, um ihn zu wecken. Das Frühstück war wie immer hektisch; lediglich ihre Tochter ließ sich Zeit und setzte sich zum Essen an den Tisch. Als sie zum Auto gingen, erinnerte Dóra die Kinder daran, dass sie am Abend zu ihrem Vater fahren würden. Sie hatten vorher nie Lust dazu, waren im Nachhinein aber immer froh, Zeit mit ihrem Vater verbracht zu haben. Vorausgesetzt, sie mussten nicht reiten.
Nachdem sie die Kinder in die Schule gebracht hatte, beeilte sich Dóra, ins Büro zu kommen. Sie hatte den handgeschriebenen Zettel aus dem Buch dabei und wollte ihn Matthias zeigen. Es war noch niemand da; die Kanzlei würde erst in einer guten halben Stunde um neun Uhr öffnen. Genug Zeit, um einen Kaffee zu kochen, die Post durchzusehen und sich einen Überblick über die Dinge zu verschaffen, die sich neben diesem sonderbaren Fall, der Dóras gesamte Zeit in Anspruch nahm, noch abspielten.
Bríet war auf dem Weg zu ihrem Seminar gewesen, das um Viertel nach acht beginnen sollte, doch der Fakultätsleiter Gunnar hatte sie abgefangen. Nachdem er ein paar Worte mit ihr gewechselt hatte, kam es für sie nicht mehr in Frage, am Unterricht teilzunehmen. Anstatt in den Seminarraum zu gehen, setzte sich Bríet zum Rauchen auf die Treppe. Sie musste sich beruhigen — und die anderen anrufen und ihnen die Nachricht überbringen. Bríet nahm einen langen, tiefen Zug von der schlanken Mentholzigarette — eine Marke, die Marta Maria so albern und schwach fand, dass sie verkündete, Bríet könne guten Gewissens behaupten, sie rauche nicht. Marta Maria rauchte Marlboro. Während Bríet die Telefonnummer ihrer Freundin heraussuchte, hoffte sie, dass Marta genug Zigaretten im Haus hätte — die würde sie nämlich jetzt brauchen.
»Hallo«, sagte Bríet atemlos, als am anderen Ende abgenommen wurde. »Hier ist Bríet.«
»Warum rufst du denn so früh an?« Marta Marias Stimme klang belegt. Bríet musste sie geweckt haben.
»Du musst in die Uni kommen — Gunnar ist total sauer und droht damit, dass wir alle hochkant rausfliegen, wenn wir nicht tun, was er sagt.«
»Was für’n Unsinn.« Ihre Stimme war plötzlich hellwach.
»Wir müssen die anderen anrufen und ihnen sagen, sie sollen herkommen. Ich lass mich nicht von der Uni schmeißen. Papa würde ausflippen und ich bekäme keine Studienunterstützung mehr.«
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