Dóra lächelte dem Mädchen zu, das schüchtern ihrem Blick auswich. Sie konnte sich unmöglich an ihren Namen erinnern, aber sie hatte sie in der letzten Zeit öfter gesehen. Gylfi hatte einen richtigen Entwicklungssprung gemacht und vielleicht war ihr Sohn in dieses Mädchen verliebt oder sie waren sogar ein Liebespaar? Das Mädchen war hübsch und fast genauso groß wie Gylfi und seine Freunde.
Sóley, die Dóra ins Haus gefolgt war, hatte ihre Schuhe und ihren Anorak ausgezogen und beides ordentlich an seinen Platz geräumt. Sie beobachtete die Jugendlichen, stützte dann die Hände in die Hüften und fragte gouvernantenhaft: »Seid ihr wieder im Bett rumgehüpft? Das ist verboten — die Matratze geht davon kaputt.«
Ihrem Bruder trat die Schamesröte ins Gesicht und er motzte: »Warum muss ich eine so beknackte Familie haben? Ihr beide seid unerträglich.« Er stürmte türeknallend davon. Seine Freunde waren furchtbar verlegen und die allgemeine Hektik beim Jackenanziehen verstärkte sich noch.
»Tschüss«, verabschiedete sich Patti, bevor er die Haustür hinter sich und den anderen zuzog. Bevor die Tür ins Schloss fallen konnte, änderte er seine Absicht, steckte den Kopf noch einmal durch den Türrahmen und verkündete: »Ihr seid lange nicht so beknackt wie meine Familie — Gylfi ist in letzter Zeit einfach nicht so gut drauf.«
Dóra lächelte ihm zu und bedankte sich herzlich. Immerhin ein Versuch, ein bisschen Höflichkeit an den Tag zu legen — auch wenn die Wortwahl zu wünschen übrig ließ. »Also dann«, sagte sie zu ihrer Tochter, »sollen wir was kochen?« Die Kleine nickte gewissenhaft und begann, eine Einkaufstüte in die Küche zu schleppen.
Nach dem gemeinsamen Abendessen — tiefgefrorene Lasagne, die Dóra extra ausgesucht, und indisches Nan-Brot, das sie versehentlich für Knoblauchbrot gehalten hatte –, ging ihre Tochter zum Spielen in ihr Zimmer, während ihr Sohn den Tisch abräumte. Offensichtlich bedauerte er seinen Ausfall über die intellektuellen Fähigkeiten seiner Mutter und seiner Schwester, brachte aber keine Entschuldigung über die Lippen. Dóra tat so, als sei nichts gewesen, und hoffte, er würde ihr am Ende von sich aus anvertrauen, was er auf dem Herzen hatte. Dóra küsste ihren Sohn vorsichtig auf die Wange und bedankte sich für die Hilfe. Im Gegenzug schenkte er ihr ein zerknirschtes Lächeln. Anschließend ging er in sein Zimmer.
Dóra beschloss, die plötzlich eingetretene Ruhe zu nutzen, um die Dateien anzuschauen, die sie aus Haralds Computer kopiert hatte. Sie holte ihren Laptop und machte es sich damit auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem. Dóra betrachtete einige Fotos vom Kochen und von der Zungenoperation. Die Fotos von der Operation waren vom 17. September. Sie öffnete eines nach dem anderen und vergrößerte die Bildausschnitte, auf denen interessante Details auftauchten. Zwischendurch gab es auch weniger abstoßende Bilder. Die meisten zeigten die Mundhöhle und die Operation selbst, aber abgesehen von Haralds Kiefer waren auch allerlei undeutliche Dinge am Bildrand zu erkennen. Zweifellos hatte die Operation in einer Privatwohnung stattgefunden. Was von der Einrichtung zu sehen war, unterschied sich deutlich von einer Arzt- oder Zahnarztpraxis. Dóra erkannte einen Sofatisch, auf dem jeder Zentimeter mit halbleeren oder leeren Gläsern, Bierdosen und anderem Kram bedeckt war, darunter auch ein großer, überquellender Aschenbecher. Es konnte sich nicht um Haralds Wohnung handeln, sie war nicht so durchgestylt und geschmackvoll wie Haralds weißes, modernes Domizil. Auf einem anderen Foto war der Körper der Person zu erkennen, die die Operation durchführte oder dabei assistierte. Er oder sie trug ein hellbraunes T-Shirt mit einem Schriftzug, den Dóra wegen des Faltenwurfs nicht lesen konnte. Es gelang ihr jedoch, die Zahl »100« und »… lico …« zu entziffern. Bei der Aufnahme der ersten zwei Fotos hatte das Schneiden noch nicht begonnen, aber auf dem dritten Bild war das Skalpell in Aktion — Blut rann aus Haralds Mundwinkeln und der abgelichtete Arm war mit Blutspritzern gesprenkelt. Beim Einschneiden der Zunge musste es in alle Richtungen gespritzt sein. Falls Wunden an der Zunge mit üblichen Kopfwunden vergleichbar sind, musste es sehr stark geblutet haben. Dóra musterte den Arm und vergrößerte den Ausschnitt, auf dem sie ein Tattoo zu erkennen glaubte. Richtig; auf dem Arm konnte man das Wort »crap« lesen. Kein Motiv oder Muster — nur »crap«.
Die Fotos vom Kochen waren interessant, weil sie kurz vor Haralds Tod datiert waren — zu der Zeit, von der Hugi behauptet hatte, Harald habe sich abgekapselt und keinen Kontakt zu seinen Freunden gehabt. Die Dateiinfos bestätigten es; die Fotos waren mittwochs geschossen worden, drei Tage vor Haralds Ermordung. Dóra betrachtete die beiden Fotos ausgiebig, vor allem die Hände, die damit beschäftigt waren, einen Salat zuzubereiten und Brot zu schneiden. Ein Halbblinder konnte erkennen, dass es sich um zwei unterschiedliche Personen handelte. Ein Händepaar war mit Narben bedeckt — Tattoo-Narben, die unter anderem einen fünfeckigen Stern sowie einen Smiley mit heruntergezogenen Mundwinkeln und Hörnern bildeten. Das musste Harald sein. Das andere Händepaar war wesentlich ansehnlicher; Frauenhände mit schlanken Fingern und gepflegten, kurzen Fingernägeln. Dóra vergrößerte das eine Foto, auf dem man am Ringfinger einen schlichten Ring mit einem Diamanten oder einem anderen weißen Edelstein erkennen konnte. Der Ring war recht unauffällig, aber vielleicht erkannte ihn Hugi, wenn man ihm das Foto zeigte.
Etwas regte sich in Dóras Gedächtnis — etwas hatte sie bei ihrem ersten Besuch in Haralds Wohnung gestört. Die deutsche Illustrierte im Badezimmer. Ausgeschlossen, dass Harald eine solche Frauenzeitschrift las. Und Isländer lasen sie natürlich auch nicht. Irgendjemand aus Deutschland musste sie mitgebracht haben — eine Frau. Von der Titelseite der Zeitschrift hatten Tom Cruise und seine Gattin in Vorfreude auf ihren Familienzuwachs in die Kamera gelächelt. Wenn Dóra nicht alles täuschte, war dieses Kind im Herbst auf die Welt gekommen. Hatte Harald Besuch aus Deutschland gehabt — jemand, der bei ihm wohnte, als er sich von seinen Freunden zurückzog? Dóra wählte Matthias’ Nummer. Nach dem dritten Klingeln nahm er ab.
»Wo sind Sie? Störe ich?«, fragte Dóra, als sie Stimmengewirr im Hintergrund wahrnahm.
»Nein, nein«, nuschelte Matthias mit vollem Mund. Er schluckte. »Ich esse gerade, hab Fleisch bestellt. Was gibt’s denn? Möchten Sie herkommen und ein Dessert mit mir teilen?«
»Äh, nein danke.« Dóra merkte, dass sie große Lust dazu hatte. Es machte Spaß, essen zu gehen, etwas Schickes anzuziehen und mit Gläsern anzustoßen, die man nicht selbst spülen musste.
»Morgen ist Schule und ich muss die Kinder rechtzeitig ins Bett bringen. Nein, ich rufe nur an, um zu fragen, ob Sie die Telefonnummer von Haralds Putzfrau haben — ich glaube, jemand hat sich kurz vor dem Mord bei ihm aufgehalten, sogar bei ihm gewohnt. Alles deutet darauf hin, dass es sich um jemanden aus Deutschland handelt — eine Frau.«
»Ja, ich hab die Nummer irgendwo gespeichert. Soll ich für Sie anrufen? Ich habe schon mal mit der Frau gesprochen und sie spricht gut Englisch. Das ist vielleicht am einfachsten — die Frau kennt Sie ja nicht, kann sich aber bestimmt an mich erinnern, da ich ihre letzte Rechnung bezahlt habe.«
Dóra nahm dankend an und Matthias versprach, zurückzurufen. Sie nutzte die Zeit, um ihrer Tochter zu sagen, sie solle ihren Schlafanzug anziehen. Dóra war gerade damit beschäftigt, Sóley die Zähne zu putzen, als Matthias wieder anrief. Sie klemmte sich den Hörer unters Kinn, um gleichzeitig telefonieren und sich der Zahnpflege ihres Schützlings widmen zu können.
»Hören Sie, die Frau sagt, das Bett im Gästezimmer sei benutzt gewesen. Außerdem hätten Kosmetikartikel im Bad gestanden — Einwegrasierer — diese Frauenrasierer. Sie haben offenbar Recht.«
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