Matthias hob ratlos die Schultern. »Wer weiß? Vielleicht kommt nie eine Antwort.«
Dóra wollte nicht so schnell aufgeben wie Matthias. »Aber vielleicht hat Harald in seinem Computer irgendwelche Informationen über ihn.«
Matthias hob die Augenbrauen. »Haben Sie Informationen über Ihre Bekannten in Ihrem Computer?«
»Ach, Sie wissen doch, was ich meine. Eine Adressliste im E-Mail-Programm von den Personen, mit denen man am meisten korrespondiert.«
Matthias zuckte erneut mit den Schultern. »Ja, ich weiß schon, welche Art Liste Sie meinen. Vielleicht hatte Harald so was. Man weiß ja nie.«
Dóra drehte den Bildschirm zurück an seine normale Position. »Wie wäre es, wenn Sie gleich bei der Polizei anrufen und nach Haralds Computer fragen?« Sie schaute auf die Uhr auf ihrem Bildschirm. »Es ist erst kurz vor zwei, die Wache sollte also geöffnet haben.« Der Brief mit der Bitte um Herausgabe der Ermittlungsunterlagen war aus Bellas Postkörbchen verschwunden. Alles deutete darauf hin, dass Bella ihn gestern abgeschickt hatte.
Wahrscheinlich war der Brief schon angekommen, aber sie konnten nicht wissen, ob man ihre Anfrage schon bearbeitet hatte. Es wäre vernünftiger, einen oder zwei Tage mit dem Anruf zu warten und dann sowohl nach dem Computer als auch nach den Ermittlungsunterlagen zu fragen. Dóra schob jedoch die Stimme der Vernunft beiseite und überließ der Ungeduld das Steuer. Es blieb ihr ja kaum etwas anderes übrig. Sie hatte im Telefonverzeichnis im Internet nach den Handynummern von Haralds Freunden gesucht und die Nummern von Marta Maria, Bríet und Brjánn gefunden. Als sie die drei endlich erreicht hatte, hatten sie sich geweigert — Bríet nahezu hysterisch –, mit ihr zu sprechen, und sie auf die polizeilichen Aussagen verwiesen. Dóra und Matthias blieben daher zurzeit nicht viele Alternativen. »Rufen Sie an«, drängte Dóra.
Matthias fügte sich und bekam die Auskunft, es stünde ihnen frei, den Computer auf der Polizeiwache abzuholen. Ein Polizeibeamter namens Markús Helgason werde sie dort in Empfang nehmen.
Auf der Polizeiwache begrüßte der besagte Markús Dóra auf Isländisch, wendete sich dann an Matthias und sagte auf Englisch mit starkem Akzent: »Jetzt sind wir uns schon zweimal begegnet, bei der Wohnungsdurchsuchung und als Sie herkamen, um meinen Vorgesetzen, Árni Bjarnason, zu treffen.« Der Polizeibeamte lächelte verlegen. »Sie waren wohl nicht ganz mit ihm auf einer Wellenlänge, deswegen soll ich Sie jetzt in Empfang nehmen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen einzuwenden.«
Der junge Mann trug eine hellblaue Polizeijacke und eine schwarze Uniformhose. Er war recht klein, aber die Zeiten, als von Polizisten eine Mindestgröße gefordert wurde, waren ja schon lange vorüber. Ansonsten sah Markús vollkommen normal aus, war weder hübsch noch hässlich, dunkelblond, mit gräulichen, eher unauffälligen Augen. Als er ihnen seine Hand reichte, lächelte er, und im selben Moment änderte sich Dóras Eindruck von ihm schlagartig. Er hatte wunderschöne, weiße Zähne und Dóra wünschte ihm viele Anlässe zur Freude.
Matthias und Dóra versicherten ihm, es mache ihnen nichts aus, seinen Vorgesetzten nicht zu treffen, und der junge Polizist ergriff erleichtert wieder das Wort. »Es würde mich freuen, wenn wir uns kurz unterhalten könnten. Soweit wir informiert sind, untersuchen Sie den Tatbestand in dem Mordfall, und da unsere Ermittlungen offiziell noch nicht abgeschlossen sind, wäre es gut, wenn wir uns kurz austauschen.« Er zögerte einen Moment und fügte dann vorsichtig hinzu: »Der Computer sowie einige Dokumente, die wir zurückgeben müssen, werden gerade in eine Kiste gepackt. Sie müssen also sowieso einen Augenblick warten. Wir können uns solange in mein Büro setzen.«
Dóra warf Matthias einen Blick zu. Matthias signalisierte ihr durch eine leichte Schulterbewegung, er habe nichts gegen ein Gespräch einzuwenden. Dóra war vollkommen klar, dass es sich bei der Sache mit dem Computer und der Kiste um einen reinen Vorwand handelte — ein einarmiger Mann bräuchte dafür ungefähr drei Minuten. Sie ließ sich nichts anmerken, lächelte arglos und erklärte, das sei kein Problem. Der Polizeibeamte führte sie in sein Büro.
Bis auf eine Kaffeekanne mit der Aufschrift Manchester United gab es in dem Raum keine persönlichen Gegenstände. Der Beamte bat Dóra und Matthias, sich zu setzen. Erst, nachdem sie Platz genommen hatten, setzte er sich selbst hin. Während dieser Prozedur sprach keiner ein Wort und als endlich alle saßen, trat eine unangenehme Stille ein.
»Tja, so ist das also«, sagte der Polizist mit gekünstelter Fröhlichkeit in der Stimme. Dóra und Matthias lächelten nur, erwiderten aber nichts. Dóra wollte, dass der Polizist das Gespräch in Gang brächte, und Matthias’ zusammengekniffene Lippen deuteten darauf hin, dass er derselben Meinung war. Endlich kam der Polizist zum Thema. »Wir haben gehört, dass Sie heute Morgen in Litla-Hraun waren und Hugi þórisson getroffen haben.«
»Das stimmt«, sagte Dóra kurz.
»Jawohl«, entgegnete der Polizeibeamte. »Was ist dabei herausgekommen?« Er schaute sie abwechselnd erwartungsvoll an. »Es ist ziemlich ungewöhnlich, gleichzeitig als Bevollmächtige der Angehörigen und als Unterstützer des Tatverdächtigen aufzutreten, was Sie, soweit ich informiert bin, heute Morgen im Gefängnis gemacht haben.«
Dóra blickte zu Matthias, der sie mit einer Handbewegung aufforderte, zu antworten. »Sollten wir nicht lieber sagen, die Umstände sind ungewöhnlich und nicht alltäglich und wir verhalten uns nur entsprechend. Trotz alledem arbeiten wir in erster Linie für Haralds Familie; die Interessen von Hugi þórisson entsprechen lediglich den Interessen der Familie Guntlieb.« Sie machte eine kleine Pause, um dem Polizeibeamten die Gelegenheit zu geben, Einwände zu erheben, was er nicht tat. Daher redete sie weiter. »Wir glauben nicht, dass er schuldig ist. Unsere Unterredung mit ihm heute Morgen hat uns in unserer Meinung sogar noch bestärkt.«
Der Polizist hob erstaunt die Augenbrauen. »Ich muss gestehen, ich verstehe nicht ganz, warum Sie da so sicher sind. Sämtliche Ermittlungsergebnisse besagen das Gegenteil.«
»Unserer Meinung nach gibt es sehr viele unbeantwortete Fragen; ich denke, das ist der Hauptgrund«, antwortete Dóra.
Der Polizist nickte und schien ihr beizupflichten. »Das stimmt vollkommen, aber wie gesagt, unsere Ermittlungen sind noch nicht beendet. Andererseits würde es mich sehr überraschen, wenn noch etwas ans Licht kommen sollte, das unsere Theorie, dass Hugi þórisson Harald umgebracht hat, über den Haufen werfen würde.« Er spreizte die Finger seiner einen Hand und zählte, indem er einen Finger nach dem anderen mit der anderen Hand umfasste. »Erstens war er kurz vor dem Mord mit dem Verstorbenen zusammen. Zweitens wurde Haralds Blut auf der Kleidung gefunden, die er an jenem Abend trug. Drittens haben wir in seinem Schrank ein T-Shirt gefunden, mit dem eine beträchtliche Menge Blut aufgewischt wurde — auch dieses Blut war von dem Verstorbenen. Viertens war er Mitglied in diesem Zauberclub des Ermordeten und kannte sich daher mit magischen Runen aus, also auch mit derjenigen, die in die Leiche geritzt war. Und fünftens war er an jenem Abend aufgrund von Drogenkonsum derart benebelt, dass er durchaus fähig gewesen wäre, der Leiche die Augen herauszuschneiden. Glauben Sie mir — so etwas macht niemand im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten. Hugi war in Drogengeschäfte verwickelt und hatte vermutlich die Absicht, Drogen ins Land zu schmuggeln. Der Ermordete verfügte über genügend Kapital, um dies zu finanzieren, und kurz vor dem Mord verschwand eine beträchtliche Summe von seinem Konto. Spurlos. So etwas geschieht nicht bei normalen Geschäften. Auf die eine oder andere Weise lassen sich Kapitalbewegungen immer nachvollziehen.« Der Polizist betrachtete seine Hände. Er hielt alle Finger seiner linken Hand mit der rechten Hand umfasst. »Ich könnte es beschwören — meistens reichen wesentlich weniger Beweise, um jemanden zu verurteilen. Uns fehlt lediglich ein Geständnis, wobei ich bereitwillig zugebe, dass ein solches unter ähnlichen Bedingungen meistens schon längst vorliegt.«
Читать дальше