Matthias wendete seinen Blick für einen Moment von der Straße ab und betrachtete die Umgebung. Es war so gut wie kein Verkehr. »Sehr.« Er lächelte ihr zu, so als wolle er Frieden schließen.
»Wir sind wohl nicht gerade die besten Kollegen«, bemerkte sie und dachte an die vielen kleinen Streitigkeiten, die sie in der kurzen Zeit schon gehabt hatten. »Vielleicht sollten wir eine neue Taktik ausprobieren.«
Er lächelte ihr wieder zu. »Finden Sie? Ich bin wunschlos glücklich. Sie sind eine wesentlich nettere Gesellschaft, als ich in meinem Beruf gewöhnt bin. Immer nur Männer, und die wenigen Frauen, mit denen ich zu tun habe, sind so affektiert, dass ihre Fassade zu bröckeln beginnt, wenn man sie nur antippt.«
Jetzt musste Dóra lächeln. »Sie sind allerdings auch besser als Bella, das muss ich zugeben.« Sie verstummte. »Beantworten Sie mir eine Frage. In der Mappe war ein Ausschnitt aus einer deutschen Tageszeitung, in dem es um den Tod einiger junger Leute bei dieser sexuellen Würgepraktik ging. Warum haben Sie den Artikel in die Mappe getan?«
»Tjaaa.« Matthias zog das Wort in die Länge. »Ein Unding. Einer der Leute, die in dem Artikel erwähnt werden, war ein guter Freund von Harald. Sie haben sich an der Uni in München kennen gelernt und waren wohl so etwas wie Seelenverwandte. Beide haben sich mit diesem Unsinn beschäftigt. Ich weiß nicht, wer von beiden dieses merkwürdige Spielchen eingeführt hat, aber Harald schwor, sein Freund hätte damit angefangen. Harald war dabei, als der junge Mann starb. Eine Zeit lang wurde er ausgiebig verhört und steckte in erheblichen Schwierigkeiten. Es ist eine Schande, aber ich glaube, er hat sich von einer Strafverfolgung freigekauft. Sie haben vielleicht eine größere Auszahlung aus dieser Zeit bemerkt, die besonders markiert ist?« Dóra bejahte. »Ich habe den Artikel abgeheftet, weil Harald erwürgt wurde. Es könnte möglicherweise von Bedeutung sein. Wer weiß — es ist zwar fragwürdig, aber durchaus denkbar, dass er auf die gleiche Weise starb wie sein Freund.«
Sie parkten den Wagen vor der Umzäunung am Gefängnis Litla-Hraun und gingen zum Gästeeingang. Ein Gefängniswärter brachte sie in einen kleinen Warteraum in der ersten Etage. »Wir dachten, Sie könnten sich hier aufhalten. Sie werden sich in diesem Raum wesentlich wohler fühlen als im Verhörzimmer«, erklärte er. »Hugi verhält sich ruhig und sollte Ihnen keine Probleme bereiten. Er kommt gleich.«
»Vielen Dank, das ist gut«, sagte Dóra und betrat den Raum. Sie nahm auf einem braunen Ledersofa Platz und Matthias setzte sich direkt neben sie. Dóra wunderte sich über seine Platzwahl, da es genug Stühle gab.
Matthias schaute sie an. »Wenn Hugi gegenüber von uns Platz nimmt, sitzen wir am besten so. Ich möchte ihm direkt ins Gesicht sehen.« Er hob zweimal kurz die Augenbrauen. »Außerdem fühlt es sich richtig gut an, so dicht neben Ihnen zu sitzen.«
Dóra konnte darauf nicht mehr antworten, denn die Tür öffnete sich erneut und Hugi þórisson erschien in Begleitung eines Gefängniswärters. Dieser hatte eine Hand auf die Schulter des jungen Mannes gelegt, der niedergeschlagen vor sich hin starrte. Der Wärter führte ihn durch die Tür. Hugi trug Handschellen. Er kam Dóra so harmlos vor, dass ihr diese Maßnahme völlig überflüssig erschien. Erst als der Wärter Hugi ansprach, blickte der Junge auf. Er strich sich das dichte Haar mit beiden Händen aus den Augen und Dóra sah, dass er sehr hübsch war. Hugi sah ganz anders aus, als sie sich vorgestellt hatte. Er wirkte eher wie 17 als wie 25, hatte dunkle Augenbrauen und große Augen, aber am auffälligsten waren seine ausgeprägten Wangenknochen. Der Junge war insgesamt eher schmächtig. Wenn er Haralds Mörder ist, muss er sich ganz schön angestrengt haben, dachte Dóra. Er sah zumindest nicht so aus, als sei er in der Lage, eine 85 Kilo schwere Leiche weit zu schleppen.
»Du wirst dich doch anständig benehmen, mein Junge?«, fragte der Wärter Hugi freundschaftlich. Hugi nickte schweigend und der Wärter umfasste seine Handgelenke und löste die Handschellen. Dann legte er wieder seine Hand auf Hugis Schulter und führte ihn zu dem Stuhl gegenüber von Dóra und Matthias. Hugi vermied es, die beiden anzuschauen. Er wendete den Kopf ab und starrte auf den Fußboden neben seinem Stuhl, auf dem er mehr hing als saß.
»Wir sind im Nachbarzimmer, falls ihr uns braucht. Er sollte keine Probleme machen.« Der Wärter richtete seine Worte an Dóra.
»In Ordnung«, entgegnete sie. »Wir halten ihn nicht länger auf als nötig.« Dóra schaute auf ihre Armbanduhr. »Es wird bestimmt nicht länger als bis zum Mittag dauern.«
Der Wächter ließ sie allein. Als er die Tür hinter sich zugezogen hatte, war außer dem Atmen der drei Anwesenden nur noch ein leises Geräusch zu hören — Hugi kratzte sich rhythmisch am Knie, das in einer Armeehose steckte. Die Gefangenen durften hier offenbar ihre eigene Kleidung tragen — anders als in amerikanischen Gefängnissen, wie sie Dóra aus dem Fernsehen und Kino kannte. Der Junge schaute sie nicht an.
»Hugi«, sagte Dóra so einfühlsam wie möglich. Sie sprach weiter Isländisch, denn es kam ihr komisch vor, das Gespräch auf Englisch zu beginnen. Es würde sich noch herausstellen, ob das überhaupt möglich war. Sie durften sich jetzt aufgrund von lästigen Sprachbarrieren nichts vermasseln; wenn der Junge nicht genug Englisch verstand, müsste Dóra das Gespräch wohl oder übel allein führen. »Du weißt vermutlich, wer wir sind. Ich heiße Dóra Guðmundsdóttir und bin Rechtsanwältin und das ist Matthias Reich aus Deutschland. Wir sind wegen des Mordes an Harald Guntlieb hier und stellen unabhängig von der Polizei Nachforschungen an.«
Keine Reaktion. Dóra redete weiter. »Wir wollten dich treffen, da wir nicht glauben, dass du etwas mit dem Mord zu tun hast.« Sie holte tief Luft, um die folgenden Worte zu unterstreichen. »Wir sind auf der Suche nach Haralds Mörder und halten es für sehr wahrscheinlich, dass du nicht der Schuldige bist. Unser Ziel ist es, denjenigen zu finden, der Harald umgebracht hat, und falls du es nicht warst, wäre es vorteilhaft für dich, uns zu helfen.«
Hugi hob den Kopf und schaute Dóra an. Er öffnete jedoch weder den Mund, noch machte er irgendwelche Anstalten, sich zu äußern, daher sprach Dóra weiter. »Verstehst du das? Wenn es uns gelingen sollte zu beweisen, dass ein anderer Harald ermordet hat, dann bist du in den wesentlichen Punkten von der Anklage befreit.«
»Ich hab ihn nicht umgebracht«, sagte Hugi leise. »Mir glaubt keiner, aber ich hab ihn nicht umgebracht.«
Dóra fuhr fort. »Hugi, Matthias kommt aus Deutschland und hat Erfahrung mit solchen Ermittlungen, aber er spricht kein Isländisch. Traust du dir zu, mit uns Englisch zu sprechen, damit er uns verstehen kann? Wenn nicht, ist das kein Problem. Wir möchten, dass du unsere Fragen verstehst und … –«
»Ich kann Englisch«, war die fast geflüsterte Antwort.
»Gut«, sagte Dóra. »Wenn du etwas nicht verstehst oder Schwierigkeiten mit den Antworten hast, dann wechseln wir einfach wieder ins Isländische.«
Dóra wendete sich an Matthias und teilte ihm mit, sie könnten auf Englisch weitermachen. Matthias ließ sich das nicht zweimal sagen, beugte sich vor und eröffnete das Gespräch. »Hugi, jetzt setz dich erst mal gerade hin und dreh dich zu uns. Lass diesen Jammerton und reiß dich zusammen, zumindest solange wir hier sind.«
Dóra stöhnte innerlich; was sollte dieses Machogehabe? Sie würde sich nicht wundern, wenn Hugi aufstünde, in Tränen ausbräche und sofort gehen wollte, und dann müssten sie sich damit abfinden, denn er war schließlich aus freiem Willen hier. Dóra hatte keine Möglichkeit einzugreifen, denn Matthias redete unaufhörlich weiter. »Du bist in einer ziemlich miesen Lage, das muss ich dir ja nicht lang und breit erklären. Wir sind im Grunde deine einzige Hoffnung, aus dieser Sache rauszukommen, daher solltest du alles dafür tun, uns zu helfen und uns ehrlich antworten. In deiner Situation versinkt man leicht in Selbstmitleid, aber es ist an der Zeit, deinen Mann zu stehen und dich nicht wie ein kleines Kind zu verhalten. Also hör mir zu, setz dich vernünftig hin, schau mich an und antworte uns nach bestem Gewissen. Du wirst dich besser fühlen, wenn du dich ein bisschen zusammenreißt. Versuch’s einfach mal.«
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