»Gylfi, wenn du mit mir darüber reden möchtest, dann versprich mir, es nicht hinauszuzögern.« Als sie sah, dass er zurückwich, fügte sie schnell hinzu: »Ich meine das mit dem Spiel. Mit Arsenal. Du weißt, dass du immer zu mir kommen kannst, Schatz. Ich kann zwar nicht die Probleme der ganzen Welt lösen, aber ich kann es mit unseren eigenen probieren.«
Gylfi schaute sie kommentarlos an. Er lächelte schwach und murmelte, er müsse noch einen Aufsatz zu Ende schreiben. Dóra brummelte etwas zurück, ging hinaus und schloss die Zimmertür. Sie konnte sich schwer vorstellen, welches Ereignis einen 16-jährigen Jungen aus dem Gleichgewicht brachte — sie war schließlich selbst nie in seiner Lage gewesen und erinnerte sich nicht besonders gut an ihre eigene Jugend. Das Einzige, was ihr einfiel, waren mädchentypische Probleme. Vielleicht war er unglücklich in ein Mädchen verliebt. Dóra beschloss, die Sache geschickter anzugehen — sie würde ihm morgen beim Frühstück ein paar Fangfragen stellen. Vielleicht hatte er diese Krise morgen sogar schon überwunden. Gut möglich, dass es sich nur um einen Sturm im Wasserglas handelte — ein Hormonschub.
Nachdem sie Sóley die Zähne geputzt und ihr etwas vorgelesen hatte, machte Dóra es sich auf dem Sofa vor dem Fernseher gemütlich. Sie brachte ein Telefonat mit ihrer Mutter hinter sich, die gemeinsam mit ihrem Vater einen Monat Urlaub auf den Kanarischen Inseln machte. Bei jedem Anruf musste sie sich dasselbe Gejammer anhören. Letztes Mal war es der fehlende isländische Quark gewesen, der ihre Eltern fast ins Grab gebracht hätte, jetzt war es der Discovery Channel im Fernsehen im Hotel, von dem ihr Vater nach Aussage ihrer Mutter abhängig geworden war. Sie verabschiedeten sich, und ihre Mutter sagte betrübt, sie würde jetzt neben ihrem Mann aufs Sofa sacken und sich darüber belehren lassen, wie sich Raupen vermehren. Dóra schmunzelte, legte auf und starrte weiter auf den Bildschirm. Als sie fast bei einer albernen Reality-Serie eingeschlafen wäre, klingelte das Telefon. Sie richtete sich auf dem Sofa auf und reckte sich nach dem Telefon.
»Dóra«, meldete sie sich, wobei sie darauf Acht gab, ihre Stimme nicht so klingen zu lassen, als sei sie eben eingenickt.
»Ja, grüß dich, hier ist Hannes«, tönte es vom anderen Ende der Leitung.
»Ja, hallo.« Dóra wusste nicht, ob es jemals aufhören würde, ihr unangenehm zu sein, mit ihrem Ex-Mann Hannes zu sprechen. Dieses verklemmte Miteinanderumgehen resultierte zweifellos daraus, dass sich ihre intime Beziehung in ein gezwungenes Höflichkeitsverhältnis verwandelt hatte, was so ähnlich war, wie einem früheren Liebhaber oder jemandem, mit dem man in jungen Jahren geschlafen hat, zu begegnen — in einem so kleinen Land wie Island war das unumgänglich.
»Hör mal, wegen des Wochenendes, ich wollte dich fragen, ob ich die Kinder am Freitag ein bisschen später abholen kann. Ich möchte mit Gylfi eine Probefahrt machen und glaube, das geht besser, wenn der Berufsverkehr vorbei ist, so gegen acht.«
Dóra willigte ein, obwohl sie wusste, dass diese Verspätung nichts mit der Probefahrt zu tun hatte. Hannes musste wahrscheinlich länger arbeiten oder wollte nach der Arbeit noch ins Fitnessstudio. Genau das war einer der Gründe für ihre endlosen Streitigkeiten vor der Trennung gewesen: dass Hannes nie für irgendetwas Verantwortung übernahm; Schuld hatten immer die anderen oder es lag angeblich an den äußeren Umständen, auf die er keinen Einfluss hatte. Aber das war jetzt nicht mehr Dóras, sondern Klaras Problem, seine jetzige Lebensgefährtin. »Was habt ihr am Wochenende vor?«, fragte Dóra, nur um etwas zu sagen. »Soll ich was Besonderes einpacken?«
»Ja, wir gehen vielleicht reiten und es wäre gut, wenn sie dafür geeignete Klamotten dabeihätten«, antwortete Hannes.
Klara war Reiterin und hatte Hannes mit in diesen Sport hineingezogen. Dies bereitete Sóley und Gylfi großen Kummer, denn sie hatten Dóras Ängstlichkeit geerbt, und diese angeborene Angst war bei den Kindern sogar noch stärker als bei der Mutter. Dóra fuhr nicht gern bei Straßenglätte Auto, kletterte nicht gern auf Berge, fuhr nicht gern Aufzug, aß nicht gern rohe Lebensmittel und mied alles, was möglicherweise schlimm enden könnte. Aus unerfindlichen Gründen hatte sie jedoch keine Flugangst. Daher hatte sie volles Verständnis dafür, dass ihre Kinder bei dem Gedanken, auf ein Pferd zu steigen, von Panik befallen wurden. Hannes hingegen versuchte ständig, den Kindern einzureden, sie würden sich schon daran gewöhnen. »Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?«, fragte Dóra, obwohl sie wusste, dass sie keinen Einfluss auf Hannes’ Pläne hatte. »Gylfi ist zurzeit ein bisschen niedergeschlagen und ich bin mir nicht sicher, ob ein Ausritt das ist, was er im Moment braucht.«
»So ein Blödsinn«, erwiderte Hannes barsch. »Er wird ein immer besserer Reiter.«
»Das sagst du. Versuch bitte trotzdem, mal mit ihm zu reden. Ich glaube, er hat irgendwelche Probleme mit Mädchen. Darüber weißt du schließlich mehr als ich.«
»Probleme mit Mädchen? Was soll ich denn darüber wissen?« Hannes klang ganz aufgewühlt und Dóra grinste in sich hinein.
»Du weißt schon, etwas, das ihm dabei hilft, mit den Problemen des Lebens zurechtzukommen.« Dóras Grinsen verbreiterte sich.
»Du machst Witze«, sagte Hannes hoffnungsvoll.
»Nein, eigentlich nicht«, entgegnete Dóra. »Du wirst schon eine Lösung finden. Ich tue dasselbe für unsere Tochter, wenn bei ihr die Probleme mit den Jungs beginnen. Du kannst doch zum Beispiel mal versuchen, ihn bei eurem Ausritt beiseite zu nehmen und in aller Ruhe mit ihm zu sprechen.«
Dóra beendete das Gespräch und war sich ziemlich sicher, dass es ihr gelungen war, die Wahrscheinlichkeit eines Ausritts zu verringern. Sie versuchte, wieder in die Unwirklichkeit der Fernsehwelt abzutauchen. Aber es gelang ihr nicht, denn das Telefon klingelte sofort aufs Neue.
»Entschuldigen Sie, dass ich so spät anrufe, aber ich dachte mir, Sie denken sowieso gerade an mich«, sagte Matthias seelenruhig, nachdem sie sich begrüßt hatten. »Ich wollte Ihnen die Chance geben, ein wenig mit mir zu plaudern.«
Dóra war fassungslos — entweder hatte Matthias den Verstand verloren oder war betrunken oder machte einen schlechten Witz.
»Äh, ich habe Sie nicht unbedingt vermisst.« Sie griff nach der Fernbedienung, um den Fernseher leiser zu stellen, damit er nicht hören konnte, welchen Blödsinn sie sich anschaute. »Ich hab gelesen.«
»Was lesen Sie denn gerade?«
» Krieg und Frieden, Dostojewski«, log Dóra.
»Aha«, sagte Matthias. »Ist das vergleichbar mit Krieg und Frieden von Tolstoi?«
Dóra verfluchte sich selbst, nicht irgendein Werk von Laxness oder einem anderen isländischen Autor, den er nicht kannte, genannt zu haben. Lügen konnte sie noch nie gut. »Äh, Tolstoi! Meinte ich. Haben Sie ein bestimmtes Anliegen? Sie rufen mich wohl kaum an, um mit mir über Literatur zu diskutieren?«
»Nein, glücklicherweise nicht, denn dann hätte ich offenbar die falsche Nummer gewählt«, antwortete Matthias prompt. Da Dóra nicht darauf einging, fügte er hinzu: »Nein, entschuldigen Sie, ich rufe an, weil der Anwalt des Mannes, der in Polizeigewahrsam ist, mich eben kontaktiert hat.«
»Finnur Bogason?«, fragte Dóra.
»Ja, Sie sprechen den Namen bedeutend besser aus als ich«, bemerkte Matthias. »Er hat mir mitgeteilt, dass wir den Jungen morgen treffen können, wenn wir wollen.«
»Bekommen wir eine Erlaubnis?«, fragte Dóra verwundert. Untersuchungshäftlinge durften normalerweise nicht von jedem besucht werden.
»Dieser Finnur«, Matthias sprach den Namen mit extrem deutschem Akzent aus, »er konnte die Polizei davon überzeugen, dass wir bei der Verteidigung des Jungen mit ihm zusammenarbeiten. Was wir ja indirekt auch tun.«
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