Dóra wollte gerade etwas erwidern, als ihr Handy klingelte. Sie fischte es aus ihrer Handtasche.
»Mama«, piepste das dünne Stimmchen ihrer Tochter Sóley. »Wann kommst du?«
Dóra schaute auf die Uhr. Es war später, als sie gedacht hatte. »Jetzt gleich, mein Schatz. Ist alles in Ordnung?«
Schweigen und dann: »Hm. Mir ist nur langweilig. Gylfi will nicht mit mir reden. Er hüpft auf seinem Bett rum und will mich nicht reinlassen.«
Dóra war sich nicht ganz klar, was das zu bedeuten hatte, aber offenbar vernachlässigte Gylfi seine Babysitterpflichten. »Hör mal, Liebling«, sagte sie sanft ins Telefon. »Ich beeile mich, nach Hause zu kommen. Sag deinem Bruder, er soll sich nicht so idiotisch benehmen und zu dir kommen.«
Als sie das Handy wieder in ihre Handtasche steckte, stieß Dóra auf den Zettel mit ihren Notizen zu den Unterlagen in der Mappe. Sie holte den Zettel heraus und faltete ihn auseinander. »Ich möchte Sie ein paar Dinge zu der Mappe fragen …«
»Ein paar?«, sagte er überrascht. »Ich habe mehr als ›ein paar‹ erwartet — ziemliche viele, um ehrlich zu sein. Aber schießen Sie los.«
Dóra schaute unsicher auf ihre Liste. Mist, hatte sie so viele Punkte übersehen? Sie ließ sich nichts anmerken. »Es handelt sich nur um die Hauptfragen, es gab zu viele Kleinigkeiten, um sie alle aufzuschreiben.« Sie grinste ihn an und redete weiter. »Zum Beispiel die Bundeswehr. Warum waren diese Unterlagen in der Mappe? War Harald tatsächlich zu krank, um seinen Wehrpflicht abzuleisten?«
»Die Bundeswehr, ja. Ich habe das eigentlich nur hinzugefügt, damit Sie ein möglichst genaues Bild von Haralds Lebenslauf bekommen. Es tut vielleicht nichts zur Sache, aber man weiß nie, wie die Fäden zusammenlaufen.«
»Sie denken, der Mord hat etwas mit der Bundeswehr zu tun?«, fragte Dóra ungläubig.
»Nein, bestimmt nicht«, antwortete Matthias. Er zuckte mit den Schultern. »Andererseits weiß man bei Harald ja nie so genau.«
»Und warum ist er überhaupt zur Bundeswehr gegangen?«, fragte Dóra. »Den Beschreibungen nach zu urteilen, müsste er doch eigentlich gegen jegliche militärische Aktivitäten gewesen sein.«
»Da haben Sie vollkommen Recht. Er wurde einberufen, aber unter normalen Umständen hätte er sich mit Sicherheit für den Zivildienst entschieden. Sie wissen bestimmt, dass man in Deutschland diese Möglichkeit hat.« Dóra nickte. »Aber er tat es nicht. Seine Schwester Amelia war kurz zuvor gestorben, was ihm sehr nahe ging. Ich könnte mir vorstellen, dass er diese Entscheidung in einer seelischen Krisensituation getroffen hat. Es war zu Beginn des Jahres 1999, und im November oder Dezember desselben Jahres kam der Bescheid, Truppen in den Kosovo zu schicken. Harald reiste geradezu euphorisch ab. Ich kenne keine Details über seine militärische Laufbahn, weiß aber, dass er als vorbildlich, kooperativ und belastbar galt. Daher kam der Vorfall im Kosovo für seine Vorgesetzten völlig überraschend.«
»Welcher Vorfall?«, fragte Dóra.
Matthias verzog das Gesicht. »Eine unangenehme Geschichte. Vor allem, wenn man bedenkt, dass dieser Einsatz im Kosovo der erste Auslandseinsatz einer deutschen Armee nach dem Zweiten Weltkrieg war. Davor haben deutsche Soldaten im Ausland nur an Friedensmissionen teilgenommen. Die Vorbildfunktion unserer Soldaten spielte natürlich eine große Rolle.«
»Und die hat Harald nicht erfüllt, oder was?«, fragte Dóra.
»Doch, im Grunde schon. Man kann vielleicht sagen, er ist in unglückliche Umstände geraten. Als er drei Monate lang im Kosovo war, nahm seine Einheit einen Serben gefangen, der unter dem Verdacht stand, Informationen über tödliche Sprengstoffattentate zu besitzen. Dabei waren drei deutsche Soldaten ums Leben gekommen und weitere Männer schwer verletzt worden. Der Serbe wurde im Keller des Hauses untergebracht, in dem Haralds Truppe ihren Stützpunkt hatte. Harald war einer derjenigen, die den Mann bewachen sollten. Der Gefangene war bereits zwei oder drei Nächte lang verhört worden, ohne ein Wort zu sagen, als Harald Wache hatte. Harald hatte seinem Vorgesetzten gegenüber erwähnt, er kenne sich mit Verhörmethoden aus, und bekam tatsächlich die Erlaubnis, in der Nacht zu versuchen, etwas aus dem Mann herauszubekommen.« Matthias schaute Dóra ins Gesicht. »Dieser Mann, der Harald die Erlaubnis erteilte, hatte selbstverständlich keinen blassen Schimmer, dass Harald sich in der Geschichte der Folter auskannte. Er war wahrscheinlich davon ausgegangen, Harald würde ab und zu die Nase durch die Tür stecken und dem Gefangenen ein paar ganz harmlose Fragen stellen.«
Dóra riss die Augen auf. »Hat er den Mann gefoltert?«
»Na ja, man könnte sagen, der Serbe hätte wahrscheinlich gern mit den nackten Männern aus der Pyramide in Abu Ghraib getauscht. Ich möchte die Vorkommnisse dort auf keinen Fall entschuldigen, aber verglichen mit dem, was dieser arme Mann in jener Nacht erleiden musste, waren sie wie eine Eröffnungfeier bei den Olympischen Spielen. Bei der Wachablösung am nächsten Morgen hatte Harald alles aus dem Mann herausbekommen, was dieser wusste — und wahrscheinlich noch einiges mehr. Aber anstatt gelobt zu werden, was Harald sich seiner Meinung nach redlich verdient hatte, wurde er sofort suspendiert — nachdem seine Vorgesetzten das menschliche Wrack gesehen hatten, das in seinem eigenen Blut auf dem Zellenfußboden lag. Das Ganze wurde natürlich runtergespielt und verheimlicht. In allen offiziellen Unterlagen steht, Harald habe aus gesundheitlichen Gründe die Armee verlassen.«
»Woher wissen Sie es denn dann?«, fragte Dóra, froh, nach etwas fragen zu können, das einigermaßen normal war.
»Ich habe meine Verbindungen«, antwortete Matthias mit ironischem Gesichtsausdruck. »Außerdem habe ich mich mit Harald unterhalten, als er aus dem Kosovo zurückkam. Er war völlig verändert, das kann ich Ihnen versichern. Ich weiß nicht, ob wegen seiner Erfahrungen mit Gewalt in der Armee oder warum auch immer. Er war jedenfalls noch seltsamer als vorher.«
»Wie denn?«, fragte Dóra neugierig.
»Einfach seltsam«, antwortete Matthias. »Sowohl äußerlich als auch in seinem Verhalten. Er ging danach ziemlich bald zur Uni — zog zu Hause aus, sodass man ihn nicht mehr allzu oft zu Gesicht bekam. Wenn wir uns seitdem noch ab und an begegneten, wurde jedes Mal deutlicher, dass er sich in einer Achterbahn befand — und die raste abwärts. Als sein Großvater kurz darauf starb, wurde es vermutlich noch schlimmer; die beiden standen sich sehr nahe.«
Dóra wusste nicht, was sie sagen sollte. Harald Guntlieb war gewiss kein einfacher Mensch. Sie spähte auf ihren Zettel und beschloss, nach den Opfern der sexuellen Würgespiele zu fragen, von denen in den Zeitungsausschnitten die Rede war. Aber eigentlich hatte sie genug. Sie warf einen Blick auf ihr Handy.
»Matthias, ich muss nach Hause. Meine Liste ist noch nicht zu Ende, aber ich muss das erst mal verdauen.«
Sie räumten die Unterlagen, die sie im Arbeitszimmer durchgewühlt hatten, flüchtig auf. Dabei achteten sie darauf, die Stapel, in die sie die Dokumente aufgeteilt hatten, nicht durcheinanderzubringen. Der Gedanke, die ganze Arbeit noch einmal zu machen, war unerträglich.
Als Dóra den letzten Stapel ordentlich beiseitegelegt hatte, wendete sie sich zu Matthias und fragte: »Hat Harald ein Testament gemacht — bei seinem hohen Vermögen?«
»Ja, es gibt ein Testament — ein ziemlich neues sogar«, erklärte Matthias. »Er hatte schon vor längerer Zeit eins gemacht, es aber Mitte September geändert. Er ist extra nach Deutschland gereist, um den Rechtsanwalt der Guntliebs zu treffen und sein Testament ändern zu lassen. Allerdings weiß niemand, was drinsteht.«
»Was?«, fragte Dóra verwundert. »Wieso nicht?«
Читать дальше