Laura Amaming schaute auf die Uhr. Es war zum Glück erst Viertel vor drei — sie hatte noch genug Zeit, um ihre Arbeit fertig zu machen und pünktlich um vier beim Unterricht zu sein. Sie lebte jetzt seit einem Jahr in Island und hatte es endlich geschafft, sich im Herbst für den Studiengang ›Isländisch für ausländische Studenten‹ einzuschreiben. Laura wollte auf keinen Fall zu spät kommen. Es traf sich gut, dass der Unterricht im Hauptgebäude der Universität stattfand, in direkter Nähe zum Árnagarður, wo sie putzte. Es wäre fast unmöglich für sie gewesen, dieses Studium anzufangen, wenn der Unterricht woanders stattfinden würde — sie war erst eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn mit der Arbeit fertig und besaß kein Auto. Heute mussten die Innenseiten aller Fenster auf der Nordseite im ersten Stock geputzt werden; Laura hatte Glück; die ersten drei Büros waren leer. Man konnte viel besser putzen, wenn niemand im Raum war. Wenn jemand ihr dabei zuschaute, mit dem sie sich nicht unterhalten konnte, war ihr das sehr unangenehm. Es würde aber alles besser werden, wenn sie erst die Sprache gelernt hatte. Zu Hause auf den Philippinen war sie gesellig und alles andere als schüchtern gewesen. Hier kam sie sich immer fehl am Platze vor, außer im Kreis ihrer Landsleute — bei der Arbeit fühlte sie sich sogar oft eher wie ein Gegenstand als wie ein Mensch; die Leute sprachen und verhielten sich so, als sei sie gar nicht da. Alle, außer Tryggvi, dem Chef der Putzkolonne. Der Mann behandelte sie immer zuvorkommend und bemühte sich sehr, mit Laura und ihren Kolleginnen Kontakt aufzunehmen, auch wenn dieser oft aus wilden Gebärden bestand, die manchmal ziemlich lustig aussahen. Wenn die Frauen versuchten, zu erraten, was er ihnen sagen wollte, ließ er sich von ihrem Gekicher nie aus der Ruhe bringen. Tryggvi war ein hochanständiger Mensch, und Laura freute sich darauf, sich bald mit ihm in seiner eigenen Sprache unterhalten zu können. Aber eins war klar — sie würde niemals seinen Namen aussprechen können, selbst wenn sie alle Isländischkurse dieser Welt besuchte. Sie sagte leise »Tryggvi« und musste beim Klang ihrer eigenen Worte lächeln.
Laura ging zum großen Zimmer für die Studenten, das als eine Art Aufenthaltsraum genutzt wurde. Sie klopfte sanft an die Tür und trat ein. Auf dem verschlissenen Sofa am anderen Ende des Raumes saß ein junges Mädchen, das Laura aus der Clique des ermordeten Studenten kannte. Diese jungen Leute waren allerdings leicht zu erkennen und erinnerten an Gewitterwolken, sowohl in ihrem Verhalten als auch in ihrer Kleidung. Das rothaarige Mädchen war in ein Handygespräch vertieft, und obwohl sie mit leiser Stimme sprach, handelte es sich unverkennbar um ein unangenehmes Thema. Das Mädchen blickte Laura griesgrämig an, verdeckte den Mund und den unteren Teil des Handys mit der Hand und verabschiedete sich von ihrem Gesprächspartner. Sie stopfte das Handy in eine armeegrüne Umhängetasche, stand auf und stapfte hochmütig an Laura vorbei. Laura versuchte, ihr zuzulächeln, und gab sich große Mühe, ihr ein »Tschüss« hinterherzurufen. Das Mädchen drehte sich auf der Türschwelle um, verwundert über den Gruß, und nuschelte etwas Unverständliches, bevor sie hinausging und die Tür hinter sich zumachte. Schade, dachte Laura. Das Mädchen war sehr hübsch, man könnte sie sogar als richtig attraktiv bezeichnen, wenn sie sich ein bisschen Mühe mit ihrem Äußeren geben, diese fürchterlichen Ringe aus den Augenbrauen und der Nase entfernen und wenigstens ab und zu einmal lächeln würde.
Als Laura fast mit dem letzten Fenster fertig war, fiel ihr Blick auf den ersten wirklichen Schmutz. Er befand sich allerdings nicht auf dem Glas selbst, sondern es handelte sich um einen kleinen, bräunlichen Fleck neben dem metallenen Fenstergriff.
Laura sprühte das Putzmittel auf den Griff und wischte mit dem Lappen von allen Seiten darüber. Manchmal übersahen die jüngeren Putzfrauen schmutzige Stellen, die nicht direkt ins Auge fielen. Laura schüttelte den Kopf über das Verhalten der Studenten in diesem Raum — der Fenstergriff war nur ein weiteres Beispiel für die Schweinerei, die sie veranstalteten. Wer konnte eigentlich so schmutzige Finger haben? Das Zeug ließ sich jedenfalls leicht abwischen. Laura betrachtete zufrieden das glänzend saubere Metall und fühlte sich, als hätte sie einen kleinen Sieg über den Fakultätsleiter Gunnar errungen. Als sie den Lappen wieder in ihre Kitteltasche stopfen wollte, starrte sie auf den Fleck, der sich auf dem Tuch gebildet hatte. Er war dunkelrot. Die braune Farbe hatte sich offenbar auf dem feuchten Stoff aufgelöst. Es war Blut — daran bestand kein Zweifel. Aber wie war es an den Fenstergriff gekommen? Laura konnte sich nicht an Blut auf dem Fußboden erinnern; derjenige, der den Fenstergriff angefasst hatte, musste doch noch an anderen Stellen Blut verloren haben. Ob das Blut möglicherweise mit dem Mord in Zusammenhang stehen könnte? Die Fenster waren aber doch nach dem Vorkommnis geputzt worden. Sie konnte sich zwar nicht daran erinnern, sie selbst geputzt zu haben, aber das hieß ja nicht, dass es nicht jemand anderes getan hätte. War im Ostflügel nicht genau an dem Tag nach dem Mord geputzt worden? Doch, natürlich! Die Polizei hatte sogar eine der jüngeren Frauen verhört, Gloria. Sie übernahm die Wochenendschichten.
Was zum Teufel sollte Laura tun? Sie war nicht gerade scharf darauf, der Polizei den Sachverhalt auf Isländisch zu erklären. Außerdem bekäme sie vielleicht Schwierigkeiten mit den Behörden, nur weil sie den Fenstergriff und somit mögliche Fingerabdrücke des Mörders abgewischt hatte. Sie könnte auch Probleme bekommen, wenn sie eine große Sache aus etwas machte, für das es vielleicht eine ganz einfache Erklärung gab. Was für eine blöde Situation. Laura suchte den Fußboden nach weiteren Blutspuren ab. Wenn sie welche fände, wäre die Sache klar, denn sie hatte selbst seit dem Mord mehr als einmal den Fußboden hier drinnen geputzt. Dann wäre das Blut von einem neueren Unfall und es gäbe eine natürliche Erklärung.
Aber auf dem Boden war kein Blut, noch nicht mal an den Fußleisten. Laura knabberte nervös auf ihrer Unterlippe. Sie sprach sich selbst Mut zu. Die Polizei hatte den Mörder verhaftet. Das hier spielte keine Rolle. Falls das Blut mit dem Mord in Verbindung stünde, wäre dies zweifellos nur ein weiterer Beweis dafür, dass der Verhaftete den Mord wirklich begangen hatte. Laura atmete tief ein. Nein, sie machte sich unnötige Gedanken — irgendein Student hatte Nasenbluten gehabt, ihm war schwindelig geworden und er hatte Luft schnappen wollen. Ihr Atem ging ruhiger, etwa eine Minute lang, bis ihr einfiel, was ihre eigenen Kinder bei Nasenbluten taten. Sie gingen ins Badezimmer — nicht ans offene Fenster.
Laura zog den Lappen wieder hervor, um zu prüfen, ob sich in den Ritzen der Fußleisten Blut befand — falls in dem Zimmer eine heftige Auseinandersetzung stattgefunden hatte, wäre es denkbar, dass beim Beseitigen der Spuren etwas zurückgeblieben war. Dann allerdings — sie bekreuzigte sich — würde sie die Polizei benachrichtigen, auch wenn das bedeutete, den netten Tryggvi zu beunruhigen. Laura kniete sich auf den Boden und tastete sich an den Wänden des Zimmers entlang. Nichts. Bis auf ein bisschen Staub und normalen Schmutz waren die Fußleisten und der Putzlappen vollkommen sauber. Sie fühlte sich besser und richtete sich auf, zufrieden mit dem Ergebnis. So ein Quatsch — selbstverständlich gab es eine einfache Erklärung für das Blut. Dass ihr überhaupt etwas anderes durch den Kopf ging, hing zweifellos mit dem Schock zusammen, den sie erlitten hatte, als die Leiche auftauchte — eine furchtbar übel zugerichtete und gottlose Leiche. Sie bekreuzigte sich erneut.
Als sie das Zimmer verließ, blieb ihr Blick an der Türschwelle hängen. Diese stand etwas vom Fußboden ab, mehr als die Fußleisten, und Laura bückte sich, um mit dem Lappen darüber zu wischen. Der Lappen blieb an etwas hängen. Laura bückte sich noch tiefer, um herauszufinden, was den Widerstand ausgelöst hatte. Etwas Silbernes leuchtete auf, und Laura suchte nach einem Werkzeug, um die Türschwelle anzuheben. Ihr Blick fiel auf ein Lineal auf einem der Tische und sie holte es. Dann versuchte sie vorsichtig, den Gegenstand herauszuschieben, was ihr nach einigen Versuchen gelang. Laura hob den Gegenstand auf und rappelte sich wieder hoch. Es war ein kleines Sternchen aus Metall, etwa so groß wie der Nagel ihres kleinen Fingers. Laura legte den Stern auf ihre Handfläche und musterte ihn. Er kam ihr irgendwie vertraut vor, aber sie wusste beim besten Willen nicht, woher. Wo hatte sie ihn schon einmal gesehen? Laura hatte keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn sie musste mit dem Fensterputzen weitermachen, wenn sie nicht zu spät zum Unterricht kommen wollte. Sie steckte das Sternchen mit dem festen Vorsatz in ihre Tasche, es Tryggvi später zu geben. Vielleicht wusste er, woher der Stern stammte. Dies hatte wohl kaum etwas mit dem Mord zu tun — ebenso wenig wie das Blut auf dem Fenstergriff, für das es gewiss eine simple Erklärung gab. Oder etwa nicht? Plötzlich fiel ihr der Finger wieder ein. Sie verdrängte die Erinnerung an dieses abscheuliche Vorkommnis und beschloss, ein Wort mit Gloria zu wechseln. Das Mädchen würde sicherlich am Wochenende arbeiten und Laura ebenfalls. Es war gut möglich, dass Gloria mehr wusste, als sie den anderen und der Polizei erzählt hatte.
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