Flankiert von den beiden Agenten, die noch kein einziges Wort miteinander gewechselt hatten, wurde Sydow daraufhin ziellos durch die Gegend chauffiert. Zumindest kam es ihm so vor. Die Verkehrsgeräusche, an denen er sich zu orientieren versuchte, waren zwar hin und wieder die gleichen. Sehr bald, seiner Schätzung zufolge nach etwa fünf Minuten, musste er allerdings die Waffen strecken und sich damit abfinden, dass Kuragins Taktik aufgegangen war. Allmählich wurde ihm flau im Magen, hatte er es doch mit Männern zu tun, für die es ein Leichtes gewesen wäre, ihn auf diskrete Art und Weise ins Jenseits zu befördern. Dass sie es nicht taten, ließ ihn hoffen, obwohl er keinen blassen Schimmer hatte, wozu das Verwirrspiel gut sein und welchen Nutzen er daraus ziehen sollte. Abwarten und Tee trinken!, lautete folglich das Motto, wobei er die Vorstellung, dies alles hier könne dem Polizeipräsidenten zu Ohren kommen, im Grunde amüsant fand. Eines, so Sydows Fazit, war gewiss: Käme das, was er sich gerade leistete, heraus, würde er seine Beförderung abschreiben können.
»Darf man fragen, weswegen Sie gerade eben geschmunzelt haben, Herr Kommissar?«, wollte Kuragin wissen, seiner Kurzatmigkeit nach zu urteilen zumindest ebenso angespannt wie er. Fast im gleichen Moment wurde Sydow ruckartig nach vorn geschleudert, woraufhin die Limousine nach rechts bog und so lange im Schritttempo weiterfuhr, bis sie schätzungsweise eine halbe Minute später zum Stehen kam. »Damit ich mitlachen kann, meine ich.«
»Ich habe mir vorgestellt, was der Polizeipräsident hierzu sagen würde«, gab Sydow bereitwillig Auskunft, während sich die Hintertüren öffneten und das Blindekuhspiel, an dem er immer weniger Gefallen fand, in die nächste Runde ging. Der Straßenlärm der letzten Viertelstunde war nahezu verebbt, nur noch bruchstückhaft zu vernehmen. Daraus und aus den Geräuschen, welche Kuragins Stiefel verursachten, zog er den Schluss, dass er auf einem der zahllosen Ostberliner Hinterhöfe gelandet war, oder, schlimmer noch, auf direktem Weg im Knast. »Endstation Hohenschönhausen, wenn ich nicht irre?«
»Falsch geraten, Herr Kommissar«, gab Kuragin zurück, der sich mittlerweile an seinen Humor gewöhnt zu haben schien. »Kap Deschnjew.«[36]
»Wusste ich’s doch!«, stöhnte Sydow gequält auf, ein Grinsen auf den Lippen, das alles andere als gelöst wirkte. »Apropos Missverständnis – wollten wir beide uns nicht duzen?«
»Jetzt, wo wir wieder unter uns sind – gerne.«
Da Sydow seine liebe Not hatte, auf dem gepflasterten Untergrund nicht ins Stolpern zu geraten, wäre ihm das plötzliche Verschwinden des Herrn zu seiner Linken beinahe zum Verhängnis geworden. Wären da nicht Kuragin und die Tür gewesen, die eine Bauchlandung im letzten Moment verhinderten.
»Also doch nicht Kap Deschnjew«, murmelte er, beide Hände auf die Oberfläche einer massiven Metalltür gestützt, während Kuragin Anstalten machte, das Sicherheitsschloss mithilfe seines Schlüssels zu öffnen. »Gott sei Dank.«
»Wo denkst du hin, Genosse Sydow«, antwortete sein neuer Duzfreund, schob ihn sachte beiseite und öffnete die Tür. Kurz darauf karrte er mit einem Hauch von Ernst in der Stimme nach: »Aber was nicht ist, kann ja noch werden.«
*
»So, da wären wir.« Am Ende eines wahren Labyrinths von Gängen, Treppenfluchten und Korridoren, in denen es beinahe so muffig wie in dem unterirdischen Stollen roch, schöpfte Kuragin kurz Atem, klopfte Sydow auf die Schulter und nahm ihm die Augenbinde ab. »Ab jetzt musst du ohne mich auskommen, Towarischtsch.«
»Ohne dich?«, rätselte Sydow und rieb sich die Augen. »Was soll denn das schon wieder heißen?«
Von einem milchverglasten Oberlicht abgesehen, drang kaum Licht in den Raum, der sich bei näherem Hinsehen als Vestibül einer geräumigen Etagenwohnung aus der Kaiserzeit entpuppte. Die vergilbten Jugendstiltapeten, verrostete Arme eines Kronleuchters und überall auf dem Boden herumliegende Stuckreste, die von der ungewöhnlich hohen Decke abgeblättert waren, ließen kaum einen anderen Schluss zu. Im Folgenden, das heißt nach dem Passieren einer weiteren Tür, sollte sich dieser Eindruck bestätigen. Auf beiden Seiten des geräumigen Korridors, auf dessen Parkettboden ein zerschlissener Läufer ausgebreitet war, lag eine Reihe geräumiger Zimmer, jedes von ihnen groß genug, um eine ganze Familie zu beherbergen. Das war natürlich nicht der Fall, überall herrschte gähnende Leere, die Fensteröffnungen waren mit Brettern vernagelt und sämtliche Räume, welche Kuragin und Sydow auf ihrem Weg durch den Korridor passierten, in nahezu komplettes Dunkel gehüllt. An den Modergeruch und die Schimmelflecken hatte sich Sydow beinahe gewöhnt, am Ende war er jedoch heilfroh, einen peinlich sauberen, mit elektrischem Licht, Telefon und zeitgenössischem Mobiliar ausgestatteten Raum zu betreten, an dessen Schmalseite sich ein weiterer Durchgang befand.
Kuragin, der seine Frage geflissentlich ignoriert hatte, ließ Sydow passieren, lehnte sich an den Türrahmen und verkündete mit unverhohlener Erleichterung: »Wie gesagt – da wären wir, Genosse Kriminalhauptkommissar.« Und weiter: »Was mich betrifft, bin ich der Auffassung, wir sind quitt.«
»Quitt?«, wiederholte Sydow und sah den Sowjetagenten, der ihm weiterhin wie ein Buch mit sieben Siegeln erschien, verdutzt an. »Wie darf ich das verstehen?«
»Wortwörtlich«, entgegnete Kuragin, wies mit der Kinnspitze auf die gegenüberliegende Tür und ließ einen Schlüssel in die Tasche seines Jacketts gleiten, an dessen linkem Ärmel immer noch Blut klebte. »Drastisch formuliert: Ab hier musst du dir selbst helfen, Tom. Was ich tun konnte, habe ich getan. Nicht nur aus Gefälligkeit, sondern aus Respekt, wie ich korrekterweise betonen muss. Wie du vor fünf Jahren diesen von der Tann zur Strecke gebracht hast, alle Achtung. Das war allererste Sahne, und ein schöner Zug von dir, ihn uns zwecks Sonderbehandlung zu überlassen. Recht ungewöhnlich für einen Klassenfeind, aber bekanntlich soll man die Hoffnung nicht aufgeben.« Kuragin klemmte ein Zigarillo in den Mundwinkel, nahm es wieder heraus und sagte: »Schade, dass wir beide nicht auf der gleichen Seite des Zauns beheimatet sind. An jemanden wie dich könnte ich mich wirklich gewöhnen. Du und ich zusammen auf Verbrecherjagd – eine vielversprechende Vision. Schade nur, dass sie so schnell nicht Wirklichkeit werden wird.« Kuragin zündete den original kubanischen Zigarillo an, paffte nachdenklich vor sich hin und sprach: »So, und jetzt heißt es wieder Dienst schieben. Zur Abwechslung mal nach Vorschrift. Nach allem, was mir bislang zu Ohren gekommen ist, scheint dies ein überaus denkwürdiger Tag zu werden. Wenn nicht gar der denkwürdigste seit dem Krieg.«
»Und ich?«
»Du, mein Freund, wirst diese Tür da drüben aufschließen und den Herrn, den du dort vorfinden wirst, ins Gebet nehmen. Auf dem Weg zur Lösung deines Falles wird er dir ein erhebliches Stück weiterhelfen, so viel kann ich dir versprechen. Besonders, was die Konsequenzen angeht, die sich aus seinen Ausführungen ergeben.«
»Welche Konsequenzen?«
»Das musst du schon selbst herausfinden, Tom.« Auf Kuragins Gesicht, welches beinahe vollständig hinter einem süßlich riechenden Rauchschleier verschwand, blitzte ein rätselhaftes Lächeln auf. »Nur so viel sei gesagt: Du bist einem Riesending auf der Spur. Gäbe es für mich derzeit nicht so viel zu tun, würde ich mich liebend gerne selbst darum kümmern.« Kuragin hob die Rechte zum Abschiedsgruß. »Und wäre da nicht ein gewisser Tom Sydow, der vermutlich viel bessere Karten hat als ich.«
*
Die erste Tat, zu der sich Sydow nach dem Betreten des geräumigen Zimmers im rückwärtigen Teil der Etagenwohnung entschloss, bestand in dem vergeblichen Versuch, das von außen verbarrikadierte Fenster zu öffnen, die zweite darin, das Licht anzuknipsen. Nachdem beides fehlgeschlagen war, wandte er sich der Gestalt zu, die auf einem Stuhl inmitten des gähnend leeren Raumes saß. Durch die Tür, die Sydow offen gelassen hatte, fiel ein greller Lichtkegel und sorgte dafür, dass der Mann reflexartig zusammenzuckte.
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