Liebermann grinste. »Sie wissen schon, was ich meine, Herr Kommissar«, antwortete er, während sich sein Gesichtsausdruck spürbar entkrampfte. »Kurz und gut, wenn jemand bei klarem Verstand war, dann Benjamin Kempa. Sieht man einmal von seiner Bernstein-Macke ab.«
Sydow runzelte die Stirn, enthielt sich jedoch jeglichen Kommentars.
»Mein Gott, was hat der Mann nicht alles angestellt, um an Bücher über das Bernsteinzimmer ranzukommen. Kempa war wie besessen davon. Da ist mit der Zeit ordentlich was zusammengekommen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr er mir damit auf die Nerven gegangen ist.«
»Und die Anstaltsleitung?«, warf Sydow stirnrunzelnd ein. »Die hat ihn tatsächlich gewähren lassen? Ich meine, es ist doch nicht unbedingt selbstverständlich, dass man einen für unheilbar erklärten Patienten mit kunsthistorischer Fachliteratur versorgt – einfach so.«
Liebermann streute ein entschiedenes Nicken ein. »Aber genau das ist passiert, Herr Kommissar«, betonte er, »einfach so. Es hätte nicht mehr viel gefehlt, und Kempa wäre an die Uni berufen worden. Was das Bernsteinzimmer angeht, hat sich der Mann bestens ausgekannt. Können Sie mir ruhig glauben, Herr Kommissar.«
»Tue ich auch, junger Mann. Tue ich. Die Frage ist nur, weshalb er sich dann umgebracht hat. Und wie.« Sydow holte sich einen Stuhl und nahm Auge in Auge mit Liebermann Platz. Seine Gestalt, an der sich der von außen hereinströmende Lichtkegel brach, warf einen langen Schatten, und Liebermann wich seinem Blick zunächst aus. »Keine Sorge«, redete Sydow seinem verschüchterten Gesprächspartner gut zu, »von mir haben Sie nichts zu befürchten.«
»Wirklich nicht?«
»Für den Fall, dass Sie mir die Wahrheit sagen – nein.«
»Er hat ihn fertiggemacht, Herr Kommissar.«
»Der Stationsarzt?«
Liebermann schüttelte den Kopf. »Der doch nicht. Ohne seinen Mentor von der Stasi hätte Kröger nicht mal einen fahren lassen.«
»Wer dann?«
»Dieser Kerl, der vor ein paar Tagen bei uns aufgekreuzt ist. Stasi-Schnüffler vom Scheitel bis zur Sohle.«
»Woher wollen Sie wissen, ob dieser …«
»Wenn man wie ich im Osten groß geworden ist, kriegt man mit der Zeit einen Blick dafür. Irrtum ausgeschlossen, Herr Kommissar, der Dreckskerl, der Kempa auf dem Gewissen hat, ist bei der Firma. Jede Wette.«
»Sehe ich das richtig, Liebermann – Sie behaupten, Kempa sei gefoltert worden.«
»Und wie, Herr Kommissar. Wenn möglich, ersparen Sie mir bitte die Einzelheiten.«
»Meinetwegen«, willigte Sydow, dessen Bedarf an makaberen Details im Verlauf des Tages mehr als gedeckt worden war, bereitwillig ein. Im Hinblick auf den Zustand, in dem er Kempas Leichnam angetroffen hatte, erübrigten sich weitere Fragen ohnehin. »Mit anderen Worten: Er hat es nicht mehr ausgehalten, Sie, Liebermann, um eine Überdosis Morphium gebeten und gestern in aller Herrgottsfrühe Selbstmord begangen.«
»Langsam werden Sie mir unheimlich, Herr Kommissar.«
Sydow spielte den Betroffenen. »War nicht meine Absicht«, beruhigte er sein Gegenüber, stützte die Ellbogen auf die Stuhllehne und sagte: »Bleibt die Frage, junger Mann, weshalb sich Kempa umgebracht hat.«
»Weil er nicht mehr weitergewusst hat, darum.«
»Und weshalb noch?«
»Ja, ja – ich weiß!«, brach es aus Liebermann ohne Vorwarnung heraus, »ich hätte ihn nicht so schmählich hintergehen dürfen. Das war unverzeihlich, durch nichts zu rechtfertigen.«
»Das müssen Sie mit sich selbst ausmachen, Herr …«
»Jens, Herr Kommissar.« Liebermann sah Sydow händeringend an. »Was hätte ich denn machen sollen?«, wehklagte er. »Dass Kempa mir vertraut hat, war schließlich jedermann bekannt. Kein Wunder, dass Kröger nicht gezögert hat, Kapital daraus zu schlagen.« Der Krankenpfleger spie seine Worte nur so aus. »Wissen Sie, was dieser Scheißkerl von mir verlangt hat? Nein? Ich solle Kempa aushorchen. Sie haben richtig verstanden, Herr Kommissar – aushorchen. Bespitzeln. Hinters Licht führen. Ausgerechnet Kempa. Als ob der irgendetwas zu verbergen gehabt hätte. Logisch, dass ich mich zunächst geweigert habe. Aber dann ist dieser Folterknecht von der Stasi aufgetaucht. Hat mit Entlassung gedroht. Auch damit, meine Familie und mich hopszunehmen. Können Sie mir verraten, was Sie an meiner Stelle getan hätten?«
Sydow zog es vor, darüber lieber nicht nachzudenken. »Wer weiß«, gab er stattdessen zu bedenken, »vielleicht war Kempa nicht der, für den du ihn gehalten hast.«
»Mag sein, dieser Bernsteinfimmel war in der Tat etwas ungewöhnlich. Und dann noch die Sache mit dieser Karte, schon komisch, da haben Sie recht.«
»Karte?«
»Kartenfragment, um es genauer zu sagen. Hat er mir vorgestern Abend in die Hand gedrückt. Unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit. Ich solle sie einem gewissen Ole Jensen zukommen lassen, hat er gesagt. Irgendein SS-Kamerad, was weiß denn ich. Keine Ahnung, wo ich den guten Mann hätte aufspüren sollen.«
Sydow verzog keine Miene. So ganz allmählich wurde ihm die Sache klar, trotz eines fast übermächtigen Bedürfnisses nach Schlaf. Eine unbekannte Größe namens Ole Jensen, Benjamin Kempa und Standartenführer a. D. von Oertzen, allesamt in der SS, der möglicherweise auch der ominöse Stasi-Agent angehört hatte. Gut möglich, dass nicht nur Kempa und von Oertzen, sondern alle vier etwas mit dem verschwundenen Bernsteinzimmer zu tun hatten. Die Frage war lediglich, was. Und vor allem: Gesetzt den Fall, dem war wirklich so – wo zum Teufel befand sich das verdammte Zimmer? Wohin war es kurz vor Kriegsende transportiert worden? Und von wem? Sydow war so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass er Liebermann beinahe vergaß. Geraume Zeit später, nach minutenlangem Brüten, schreckte er wieder aus seinen Gedanken auf. »Kann es sein, dass du dir nicht anders zu helfen gewusst hast, als die dir anvertraute Karte prompt weiterzuleiten?«, wollte er von Liebermann wissen.
»So könnte man es ausdrücken, ja.«
»Verdammt knifflige Situation für dich, stimmt’s?«
»Hören Sie, Herr Kommissar, wenn Sie glauben, Kempas Schicksal ließe mich kalt, irren Sie sich gewaltig«, stellte Liebermann auf eine Weise klar, die jegliche Zweifel an seiner Aufrichtigkeit zerstreute. »Was hätte ich denn machen sollen, können Sie mir das vielleicht …«
»Jeder ist sich selbst der Nächste, keine Frage«, warf Sydow mit belegter Stimme ein. »Was mich betrifft, kann ich dir da keinen Vorwurf machen. Die Frage ist, wie du auf Dauer damit klarkommen wirst. Und das, junger Mann, ist letzten Endes allein dein Problem.« Sydow erhob sich, schob den Stuhl beiseite und begab sich zur Tür. Dort angekommen, drehte er sich noch einmal um, ging in sich und sagte: »Eine Frage hätte ich allerdings noch.«
»Ja?«
»Bist du in der Lage, mir diesen Folterknecht von der Stasi zu beschreiben?«
Liebermann machte ein angewidertes Gesicht. »Ziemlich lange Haare, nicht auf den Kopf gefallen, geschliffene Umgangsformen, gut aussehend, gut gekleidet, gut gebaut – kurzum: Einer, auf den die Frauen fliegen.«
»Ein Salonlöwe sozusagen.«
»Genau.« Liebermann rieb sich die schmerzenden Handgelenke und stand mühsam auf. »Eiskalt, rücksichtslos, verschlagen und hinterhältig bis zum Gehtnichtmehr – um nur einige seiner Charaktermerkmale zu erwähnen. Vor so jemandem muss man sich hüten.«
»Besondere Kennzeichen?«
»Bitte halten Sie mich nicht für bekloppt, Herr Kommissar – aber er hat ausgesehen wie …«
»Nur keine falsche Scham, junger Freund«, übte sich Sydow in Galgenhumor. »Wir sind unter uns.«
»… wie Gene Kelly, als er in diesem Musketier-Film mitgespielt hat.« Liebermann dachte angestrengt nach. »Ja, genau!«, rief er nach einer Weile aus. »Er hat ausgesehen wie dieser d’Artagnan. Wegen seines Bartes, meine ich. Auf die Gefahr, als bescheuert dazustehen – er hätte glatt als Musketier durchgehen können.«
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