»Nein, tatsächlich, Sir Benjamin, das haben wir nicht«, warf der Pfarrer ein, der offenbar das Gefühl hatte, jetzt lange genug übergangen worden zu sein. Er sah nachdenklich aus. »Aber das wäre auch nicht möglich gewesen, wissen Sie. Es war sehr dunkel und regnete stark. Zudem war das Licht ja ausgegangen. Ich meine, daß er sogar hinuntergestoßen worden sein könnte, als das Licht noch brannte. Sehen Sie: Hier stand die Lampe, hier auf dem Tisch. Die breite Seite der Lampe war hier, was bedeutet, daß der Lichtstrahl genau auf den Tresor gerichtet war. Nur knapp zwei Meter zur anderen Seite, wo die Balkontür ist, und jede Person hätte in völliger Dunkelheit gestanden.«
Der Chief Constable zog die Schultern hoch und bohrte einen Zeigefinger in seine Schläfe.
»Was ich meine, Gentlemen, ist folgendes: Es mag einen Mörder gegeben haben. Doch dieser Mörder muß nicht notwendigerweise auch hier heraufgeschlichen sein, ihm eins über den Schädel gegeben und ihn dann in den Tod gestürzt haben. Ich meine, vielleicht haben überhaupt keine zwei Leute auf dem Balkon gestanden ... Was ist mit einer Todesfalle?«
»Ah!« murmelte Dr. Fell und beugte sich vor. »Nun - «
»Sehen Sie, Gentlemen«, fuhr Sir Benjamin fort und wandte sich den anderen zu. Er suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. »Ich meine... mindestens zwei weitere Starberths stürzten von diesem Balkon zu Tode. Wenn wir nun annehmen, dieser Balkon hätte ein Geheimnis - einen Mechanismus...?«
Rampole schaute zur Balkontür hinüber. Hinter dem abgerissenen Efeu war eine niedrige Steinbalustrade zu erkennen, die unangenehme Vorstellungen weckte. Der ganze Raum wirkte mit einem Mal noch düsterer und unheilvoller.
»Ich weiß«, nickte er. »Wie im Roman. Ich erinnere mich an einen, den ich als Kind gelesen habe und der mich sehr beeindruckte. Irgendwas mit einem am Boden festgeschraubten Stuhl in einem alten Haus und einem Gewicht, das von der Decke herabfiel und jeden tötete, der darunter saß. Aber, sehen Sie, so was gibt es doch nicht wirklich! Nebenbei gesagt, brauchte man ja auch noch jemand, der diese Vorrichtung bedient...«
»Nicht unbedingt. Es kann einen Mörder gegeben haben, doch ist dieser Mörder vielleicht schon über hundert Jahre tot.« Sir Benjamins Augen weiteten sich, verengten sich dann aber wieder. »Heiliger Georg! Ich werde langsam richtig gut in diesen Dingen! -Da fällt mir ein: Angenommmen, der junge Starberth öffnet den Tresor und findet dort eine Kassette mit Anweisungen, etwas auf dem Balkon zu tun. Dann passiert etwas, die Kassette fällt ihm aus der Hand hinunter in den Brunnen - die Lampe fliegt in eine andere Richtung, wo Sie sie später finden - na?«
Eine enthusiastisch vorgetragene Theorie konnte Rampole jederzeit mitreißen. Wieder mußte er an bestimmte Zeilen aus Anthonys Manuskript denken: Doch ich habe begonnen, an einem Plan zu arbeiten. Aus tiefster Seele verabscheue und verfluche ich jene, an die mich mein Unglück mit Blutsbanden kettet... Wobei mir einfällt, daß die Ratten in letzter Zeit wieder fetter geworden sind.
Und doch - nein! Trotz seiner Begeisterung konnte er gewisse Zweifel an dieser glatten Hypothese nicht übergehen.
»Aber Sir«, protestierte er, »Sie glauben doch nicht ernsthaft, daß Anthony eine Todesfalle für seine sämtlichen Nachkommen geplant hatte. Selbst wenn er das getan hätte, wäre es nicht sehr praktisch gewesen. Denn er hätte doch nur eine Person damit gekriegt. Das Opfer nimmt die Kassette heraus, liest die Anweisung und wird vom Balkon gestürzt. Na gut. Aber am nächsten Tag entdeckt man doch das Geheimnis, oder?«
»Im Gegenteil. Man hat es eben nicht entdeckt. Angenommen die Instruktionen lauteten so: Lies dieses Papier, lege es zurück in die Kassette, schließe den Tresor wieder und verfahre dann, wie hierin vorgeschrieben... Doch diesmal«, sagte Sir Benjamin so aufgeregt, daß er Rampole mit dem Zeigefinger vor die Brust stieß, »diesmal nimmt das Opfer, warum auch immer, die Kassette und das Papier mit - und ab geht's, runter in den Brunnen.«
»Na gut, was ist aber dann mit den anderen Starberths, die nicht auf diese Weise starben? Davon hat es eine ganze Menge gegeben zwischen dem Martin von 1837 und dem Martin von 1930. Timothy hat sich zwar im Hexenwinkel das Genick gebrochen, doch es gibt keine Anzeichen dafür, daß... «
Der Chief Constable rückte leutselig seinen Kneifer fester. Jetzt war er der Lehrer, der einem Lieblingsschüler Hilfestellung leistete.
»Mein lieber Mr. Rampole«, sagte er, als räuspere er sich vor einer Klasse, »glauben Sie nicht, daß Sie die mechanischen Kunstgriffe des Mannes überschätzen, wenn Sie annehmen, er könne damit alle seine Nachkommen erwischen? Nein, nein. Aus dem einen oder anderen Grund würde der Apparat natürlich nicht immer funktionieren. Vielleicht starb Anthony ja, als er das Ding ausprobierte... Natürlich können Sie, wenn Sie wollen, auch meine erste Theorie vorziehen. Ich muß gestehen, daß ich sie für einen Moment vergessen hatte. Ich meine den Mörder, der etwas aus dem Tresor stehlen will. Er hat den Balkon als Todesfalle präpariert, benutzt also den Mechanismus des alten Anthony für seine eigenen modernen Zwecke. Er wartet, bis der junge Martin den Safe geöffnet hat. Dann sorgt er auf irgendeine Weise dafür, daß Martin hinaus auf den Balkon gelockt wird, wo der Mechanismus ihn hinunterstürzt. Die Lampe fliegt weg und zerbricht. Der Mörder -der sein Opfer niemals wirklich berührt hat - nimmt seine Beute und verschwindet. Damit hätten wir also, wie ich vorschlagen möchte, zwei Theorien, die sich beide um einen von Anthony Starberth vor langer Zeit geschaffenen Todesmechanismus drehen.«
»HEY!« dröhnte eine Donnerstimme.
Inzwischen waren die beiden Diskussionspartner so davon in Anspruch genommen, sich gegenseitig auf die Schultern zu tippen oder sich günstig zu postieren, um bestimmten Punkten besonderen Nachdruck zu verleihen, daß sie die anderen völlig vergessen hatten. Der ungestüme Ausbruch Dr. Fells ließ sie zusammenfahren. Es folgte ein heftiges Trommeln mit einem Stock auf dem Fußboden. Rampole wandte sich um. Dr. Fells massiger Leib hatte sich im Stuhl neben dem runden Tisch breitgemacht. Er funkelte sie förmlich an und schwang den anderen Stock durch die Luft.
»Sie beide«, sagte der Doktor, »sind die brillantesten logischen Geister, denen ich jemals lauschen durfte. Sie versuchen überhaupt nicht, etwas herauszufinden. Sie streiten einfach darüber, welche Version wohl die spannendste Geschichte hergibt.«
Er erzeugte mit seiner Nase ein fürchterlich herausforderndes Schnauben, es klang wie eine Fanfare. Dann fuhr er etwas sanfter fort:
»Nun, auch ich liebe solche Geschichten sehr. Seit vierzig Jahren trainiere ich meinen Verstand mit Geschichten von der Art der >Blutigen Hand<. Die üblichen Todesfallen sind mir deshalb bekannt: das Treppenhaus, das einen im Dunkeln auf einer Rutsche abwärts schickt, das Bett mit dem herabsinkenden Baldachin, das Möbelstück mit der vergifteten Nadel darin, die Uhr, die eine Kugel abfeuert oder einen mit einem Messer sticht, die Pistole im Safe, das Gewicht an der Decke, das Bett, das tödliches Gas freisetzt, wenn es durch Körperwärme aufgeheizt wird, und der ganze übrige Kram, ob nun wahrscheinlich oder nicht... Und ich gestehe«, sagte Dr. Fell vergnügt, »je unwahrscheinlicher die Sachen waren, desto besser gefielen sie mir. Ich habe ein simples melodramatisches Gemüt, Gentlemen, und ich würde Ihnen nur zu gerne glauben. Haben Sie jemals >Sweeney Todd, der Teufelsbarbier aus der Fleet Street< gesehen? Das sollten Sie mal. War eines der ersten Thrillerstücke, wie sie im frühen neunzehnten Jahrhundert sehr beliebt waren; mit einem teuflischen Barbiersessel, der einen in den Keller hinunterkatapultierte, wo der Meister einem dann in aller Ruhe die Kehle durchschneiden konnte. Aber - «
Читать дальше