Für Dorothy L. Sayers in Freundschaft und Achtung
ERSTER TEIL
Mittwoch, 29. Juli
Ein Toter
Das erste, was Sie sich als zukünftiger Adept merken müssen, ist folgendes: Sagen Sie nie dem Publikum im voraus, was Sie machen wollen. Wenn Sie das tun, dann lenken Sie dessen Aufmerksamkeit an genau die Stelle, an der Sie sie am wenigsten haben wollen, und verzehnfachen die Gefahr, daß man Ihnen auf die Schliche kommt. Wir wollen das an einem Beispiel erläutern.
PROFESSOR HOFFMANN, Moderne Zauberkunst.
An einem Fenster mit Blick über einen Garten in Kent saß Brian Page, einen Wust von Büchern aufgeschlagen auf dem Schreibtisch, und hatte nicht die geringste Lust zu arbeiten. Die Juli-Spätnachmittagssonne, die durch beide Fenster hereinschien, verwandelte den Fußboden des Zimmers in Gold. Die einschläfernde Hitze entlockte dem alten Holz und den alten Büchern ihre Gerüche. Eine Wespe kam von dem Apfelhain jenseits des Gartens hereingeschwebt, und Page scheuchte sie mit einer matten Bewegung hinaus.
Jenseits der Gartenmauer, hinter dem Gasthaus Bull and Butcher, schlängelte sich die Straße etwa eine Viertelmeile zwischen Obstbäumen dahin. Sie führte an den Toren zu Farnleigh Close vorbei, dem Herrenhaus, dessen Gewirr von schmalen Schornsteinen Page durch die Baumwipfel sehen konnte, und dann über den Hügel eines Wäldchens mit dem poetischen Namen Hanging Chart.
Die blassen Grün- und Brauntöne der sanften Landschaft Kents, die nur selten kräftigere Farben kannte, erstrahlten nun im Licht. Page kam es vor, als hätten sogar die Backsteinkamine des Herrenhauses Farbe angenommen. Er hörte, wie Mr. Nathaniel Burrows’ Wagen die Straße entlangkam, und das Motorgeräusch kam schon aus der Ferne herüber, auch wenn er nicht schnell fuhr.
Es gab, dachte Brian Page träge, schon beinahe zuviel Aufregung im Dörfchen Mallingford. Und jedem, der diesen Satz absurd fand, konnte er ihn belegen. Erst letzten Sommer war der Mord an der drallen Miss Daly geschehen, erdrosselt von einem Landstreicher, der dann auf dramatische Weise ums Leben gekommen war, als er über die Bahnlinie fliehen wollte. Jetzt, in der letzten Juliwoche, waren zweimal, an zwei aufeinanderfolgenden Tagen, Fremde im Bull and Butcher abgestiegen: einer war Künstler und der andere womöglich – niemand wußte, wie dieses Gerücht aufgekommen war – ein Detektiv.
Und dann heute das unerklärliche Hin und Her von Pages Freund Nathaniel Burrows, Anwalt in Maidstone. Irgendwie herrschte Unruhe, eine Erregung, auf Farnleigh Close, auch wenn keiner sagen konnte, was es zu bedeuten hatte. Meist ließ Brian Page kurz vor Mittag seine Arbeit liegen und ging hinüber zum Bull and Butcher, wo er sich vor dem Essen ein Glas Bier genehmigte; doch an diesem Vormittag hatte niemand eine Klatschgeschichte zu erzählen gehabt, und das war ein schlechtes Zeichen.
Gähnend schob Page ein paar Bücher beiseite. Er fragte sich, was auf Farnleigh Close geschehen sein mochte, wo es kaum je eine Aufregung gegeben hatte, seit Inigo Jones es für den ersten Baronet errichtet hatte. Das Haus hatte eine lange Reihe von Farnleighs gesehen, und die Familie hielt sich wacker. Sir John Farnleigh, derzeitiger Baronet von Mallingford und Soane, hatte zu seinen ausgedehnten Ländereien noch ein beträchtliches Vermögen geerbt.
Page mochte sie beide, den grimmigen, leicht reizbaren John Farnleigh wie auch Molly, seine unkomplizierte Frau. Das Dorfleben war genau das richtige für Farnleigh; er paßte dorthin; er war der perfekte Landedelmann, auch wenn er so lange fernab der Heimat gelebt hatte. Denn Farnleighs Geschichte war eine jener romantischen Erzählungen, für die Page sich immer wieder begeistern konnte, und schien so gar nicht zu dem soliden, beinahe konventionellen Baronet zu passen, der nun auf Farnleigh Close lebte. Vom frühen Exil bis hin zu seiner Heirat mit Molly Sutton vor gut einem Jahr war diese Geschichte (fand Page) nur ein weiterer Beleg dafür, wie aufregend das Leben im Dorfe Mallingford war.
Page grinste, gähnte noch einmal und griff wieder zur Feder. Die Arbeit rief.
Ach je.
Er betrachtete das Pamphlet, das er neben sich liegen hatte. Über den Fortgang seiner Biographien der Lordrichter von England – die wissenschaftlich und populär zugleich werden sollten – konnte er nicht klagen. Immerhin war er bereits bei Sir Matthew Hale angelangt. Aber es gab immer Äußerlichkeiten, die einen aufhielten, und Brian Page hatte auch nicht die mindeste Absicht, diesen Äußerlichkeiten den Zugang zu verwehren.
Im Grunde war sein Ehrgeiz, die Biographien der Lordrichter je zu Ende zu bringen, nicht groß, genau wie er auch sein Jurastudium nie zu Ende gebracht hatte. Echte Gelehrtenarbeit war ihm zu anstrengend, doch war er andererseits ein zu unruhiger, intellektueller Geist, um untätig zu sein. Es spielte keine Rolle, ob und wann er mit den Lordrichtern zu Ende kam. Aber er hatte eine Arbeit, zu der er sich stets ermahnen konnte, nur um dann mit einem erleichterten Aufatmen jedem faszinierenden Abweg zu folgen, der sich bot.
Das Pamphlet, das er neben sich liegen hatte, trug den Titel Ein Process gegen Hexen, welcher am zehnten Tag des Märzes 1664 gehalten wurde zu Bury St. Edmonds im Namen der Grafschaft Suffolk, verhandelt vor Sir Matthew Hale, Ritter, sintemalen Lordoberrichter an Seiner Majestät Oberstem Finanzgericht, gedruckt für D. Brown, J. Walthoe und M. Wotton, 1718.
Das war ein Abweg, auf dem er schon häufiger gewandelt war. Sir Matthew Hale hatte natürlich im Grunde kaum etwas mit Hexen zu tun. Doch so etwas hielt Brian Page nicht davon ab, ein überflüssiges halbes Kapitel zu verfassen, wenn ein Thema seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Mit wohligem Seufzer nahm er den abgegriffenen Glanville aus dem Regal. Er wollte ihn eben aufschlagen, da vernahm er Schritte im Garten, und jemand rief ihm schon durch das Fenster seine Begrüßung zu.
Es war Nathaniel Burrows, und er schwang seinen Koffer mit weit ausholenden Bewegungen, die gar nichts Anwaltsmäßiges hatten.
»Na, viel zu tun?« fragte Burrows.
»Nu-un.« Page gähnte. Er legte den Glanville beiseite. »Komm auf eine Zigarette herein.«
Burrows öffnete die Terrassentür und trat in den dunklen, bequem eingerichteten Raum. Auch wenn er sich im Zaum hielt, war er doch erregt genug, daß er fröstelnd und recht bleich wirkte an diesem heißen Nachmittag. Sein Vater, Großvater und Urgroßvater hatten die Rechtsgeschäfte der Farnleighs geregelt. Doch manchmal mochte man bezweifeln, ob Nathaniel Burrows, leicht zu erregen und bisweilen unbeherrscht in seinen Reden, sich wirklich zum Familienanwalt eignete. Und er war jung. Doch in der Regel hatte er seine kleinen Schwächen unter Kontrolle und brachte, fand Page immer, durchaus auch einen Gesichtsausdruck zustande, der frostiger war als der eines Heilbutts auf Eis.
Burrows’ schwarzes Haar war perfekt gescheitelt und lag adrett am Kopf an. Auf der langen Nase hatte er eine Hornbrille, und die Art, wie er eben über ihren Rand hinwegblickte, ließ vermuten, daß er mehr Gesichtsmuskeln besitzen mußte als gewöhnliche Menschen. Er trug einen schwarzen Anzug, elegant und unbequem, und mit den behandschuhten Händen hielt er den Koffer an sich gedrückt.
»Brian«, sagte er, »ißt du heute abend zu Hause?«
»Na ja, eigentlich schon …«
»Dann änderst du deine Pläne«, sagte Burrows abrupt.
Page sah ihn fragend an.
»Du dinierst bei den Farnleighs«, erklärte Burrows. »Essen kannst du meinetwegen auch anderswo, aber ich hätte dich gern bei bestimmten Ereignissen dort im Hause dabei.« Etwas von seinem Anwaltston kam hervor, und ihm schwoll die schmale Brust. »Was ich dir gleich erzähle, erzähle ich hochoffiziell. Zum Glück. Sage mir: Hattest du jemals das Gefühl, daß Sir John Farnleigh nicht der Mann ist, als der er sich ausgibt?«
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