Sie begann, ihm voran die Böschung hinaufzustapfen. Er folgte ihr und zischte dabei mit seinem Knüppel durch das aufgeweichte, hohe Gras. Beide schwiegen, doch das Mädchen keuchte, als sie das Tor des Gefängnisses erreichten. So weit entfernt vom Kaminfeuer mußte man sich schon einige Male selbst versichern, daß es absolut nichts Übernatürliches in diesem altertümlichen Gebäude der Folter und des Henkens gab. Rampole drückte auf den Knopf der Taschenlampe. Der weiße Strahl drang in den glitschiggrünen, übelriechenden Tunnel, tastete ihn ab, schwankte, bewegte sich dann langsam vorwärts.
»Glaubst du«, flüsterte das Mädchen, »daß es wirklich der Mann ist, der - ?«
»Du gehst besser zurück, ich sag' es dir!«
»Denk dir was Originelleres aus«, flüsterte sie mit schwacher Stimme. »Ich hab' zwar Angst, aber wenn ich zurückgehen müßte, hätte ich noch mehr Angst. Gib mir deinen Arm und dann zeige ich dir den Weg. Vorsichtig. - Was er wohl da oben macht? Er muß doch verrückt sein, so was zu riskieren.«
»Glaubst du, er kann uns kommen hören?«
»Oh nein. Jetzt noch nicht. Es ist noch meilenweit bis dahin.«
Ihre Schritte klangen hohl wie tröpfelndes Sickerwasser. Ram-poles Licht hüpfte. Mißtrauisch wurden sie von kleinen Augen beobachtet, die hastig verschwanden, wenn der Strahl in dunkle Winkel leuchtete. Mücken umschwirrten ihre Gesichter, und irgendwo in der Nähe mußte auch Wasser sein, denn das Quaken von Fröschen - ein rauher, gutturaler Chor - drang zu ihnen herüber. Rampole befand sich also ein weiteres Mal auf dieser endlosen Reise, wand sich durch enge Korridore und verrostete Türen, steinerne Treppen hinunter und wieder hinauf. Als der Strahl der Lampe auf das Gesicht der Eisernen Jungfrau fiel, flatterte etwas durch die Dunkelheit.
Fledermäuse. Das Mädchen duckte sich, und Rampole schlug wütend nach ihnen. Er hatte sich verschätzt, der Stock klirrte auf Eisen und schickte ein hallendes Scheppern zum Dach hinauf. Aus einer flatternden Wolke schrillte das Quieken der Fledermäuse als Antwort herüber. Rampole spürte, wie ihre Hand an seinem Arm zitterte.
»Wir haben ihn gewarnt«, flüsterte sie. »Ich habe Angst! Jetzt haben wir ihn gewarnt... Nein, nein, laß mich nicht hier! Ich muß bei dir bleiben. Wenn das Licht hier ausgeht... Diese garstigen Viecher, beinahe spüre ich sie in meinen Haaren...«
Obwohl er ihr beruhigend zuredete, fühlte er das heftige Pochen seines eigenen Herzens. Wenn es wirklich Tote gab, dachte er, die in dem steinernen Gebäude, wo sie gestorben waren, umgingen, dann hatten sie bestimmt genau solche leeren, spinnwebverhangenen Grimassen wie die Eiserne Jungfrau. Der Schweißgeruch dieser alten Folterkammer schien noch immer über den Gegenständen zu liegen. Er biß die Zähne zusammen, als habe er eine Bleikugel dazwischen, wie es die Soldaten zu Anthonys Zeiten taten, um die Schmerzen bei einer Amputation zu betäuben.
Anthony...
Vor ihnen erschien ein Licht. Sie bemerkten es, sehr matt, ganz am Ende einer Flucht von Stufen, die zu jenem Korridor führten, von dem das Gouverneurszimmer abging. Jemand trug eine Kerze.
Rampole knipste sein Licht aus. Er spürte, daß Dorothy im Dunkeln zitterte, als er sie hinter sich zog und dann entlang der linken Wand, den Knüppel frei in der Rechten, die Treppe hinaufzusteigen begann. Mit kalter Klarheit wußte er, daß er keine Furcht vor einem Mörder hatte. Liebend gerne sogar würde er mit seinem Stock auf den Schädel eines Mörders einschlagen.
Was jedoch die kleinen Drähte in seinen Knien straffte und vibrieren ließ und seinen Magen so kalt werden ließ wie einen ausgewrungenen Putzlappen, das war die Angst, es könnte doch jemand anderes sein.
Einen Moment lang fürchtete er, das Mädchen hinter ihm würde aufschreien. Und er wußte, daß er auch geschrien hätte, wenn dort drüben im Kerzenlicht ein Schatten aufgetaucht wäre und dieser Schatten einen dreispitzigen Hut getragen hätte... Von oben ertönten Schritte. Offenbar hatte der andere sie kommen hören, glaubte nun aber, sich geirrt zu haben; denn das Geräusch verschwand wieder in Richtung Gouverneurszimmer.
Irgendwo tappte ein Stock...
Stille.
Langsam, endlose Minuten lang, schlich Rampole die Treppe hinauf. Ein matter Lichtschein drang aus der geöffneten Tür des Gouverneurszimmers. Er steckte die Taschenlampe ein und ergriff Dorothys kalte, feuchte Hand. Seine Schuhe quietschten, doch die Ratten quietschten ebenfalls. Er glitt den Flur entlang und spähte um die Ecke der Tür.
In einem Halter auf dem Schreibtisch brannte eine Kerze. Davor saß bewegungslos Dr. Fell, das Kinn in die Hand gestützt, einen Stock gegen sein Bein gelehnt. An die Wand hinter ihm warf die Kerze seinen Schatten, der Rampole seltsamerweise an eine Statue Rodins erinnerte. Unter dem Baldachin auf Anthonys altem Bett saß, auf die Hinterpfoten aufgerichtet, eine große graue Ratte, die mit blitzenden, höhnischen Augen zu Dr. Fell hinüberblickte.
»Kommt rein, Kinder«, sagte Dr. Fell, kaum zur Tür aufblickend. »Ich muß gestehen, ich war sehr beruhigt, als ich merkte, daß ihr es seid.«

Rampole ließ den Stock durch seine Hand gleiten, und die Metallspitze klirrte auf den Boden. Er mußte sich abstützen; er sagte: »Dr. - « und stellte fest, daß sich seine Stimme in eine völlig verrückte Tonart verschoben hatte.
Das Mädchen lachte und hielt sich die Hand vor den Mund.
»Wir dachten - «, sagte Rampole und schluckte.
»Ja«, nickte der Doktor. »Ihr dachtet, ich wäre der Mörder oder ein Gespenst. Ich hatte allerdings befürchtet, daß Ihr meine Kerze vom Yew Cottage aus sehen könntet und herüberkämt, um nachzuschauen. Es gab leider keine Möglichkeit, das Fenster zu verhängen. Mein liebes Mädchen, Sie setzen sich wohl besser. Ich bewundere Ihre Nerven. Was mich angeht - «
Er zog einen altertümlichen Derringer-Revolver aus der Tasche und wog die schwere Waffe nachdenklich in der Hand. Er keuchte und nickte wieder.
»Weil wir es mit einem, wie ich glaube, sehr gefährlichen Mann zu tun haben. Hier, setzt euch, Kinder.«
»Aber was machen Sie hier, Sir?« wollte Rampole wissen.
Dr. Fell legte die Pistole neben die Kerze auf den Tisch. Er zeigte auf etwas, das nach einem Stapel handgeschriebener verfaulter und verschimmelter Folianten aussah, und auf ein Bündel brüchiger brauner Briefe. Mit einem großen Taschentuch wischte er sich den Staub von den Händen.
»Da ihr nun einmal hier seid«, polterte er, »können wir uns gemeinsam daranmachen. Ich habe hier herumgewühlt - nein, mein Junge, setzen Sie sich nicht aufs Bett. Es enthält allerlei Unerfreuliches. Hier, auf den Rand des Tisches. Und Sie, meine Liebe« - zu Dorothy - »können sich diesen Stuhl hier nehmen. Die anderen sind noch voller Spinnen.
Anthony hat natürlich Rechnungsbücher geführt«, fuhr er fort. »Ich dachte mir, vielleicht könnte ich sie finden, wenn ich ein wenig hier herumsuche. Die Frage ist doch, was Anthony vor seiner Familie versteckt hielt. Ich glaube, daß wir hinter einer alten, sehr alten Geschichte her sind. Wieder einmal die Geschichte eines verborgenen Schatzes.«
Dorothy, die sich in ihren nassen Regenmantel kauerte, wandte sich langsam um und blickte zu Rampole hinüber. Dann sagte sie:
»Ich wußte es. Das habe ich doch gesagt. Und als ich dann diese Strophen fand - «
»Ach, das Gedicht!« grunzte Dr. Fell. »Ja. Ich werde später einen Blick darauf werfen. Mein junger Freund hier erwähnte es bereits. Doch wenn man einen Hinweis auf Anthonys wirkliche Tätigkeit finden will, muß man nur sein Tagebuch aufmerksam lesen. Er haßte seine Familie. Er schrieb, sie würden noch dafür bezahlen, daß sie seine Gedichte verspottet hatten. Deshalb versteckte er in seinen Versen eine verborgene Bedeutung, um sie zu verspotten. Ich bin zwar kein besonders guter Buchprüfer, doch hieraus ist klar zu erkennen«, er klopfte auf die Folianten, »daß er ihnen von seinem Riesenvermögen reichlich wenig Bares hinterlassen hat. Natürlich konnte er sie nicht ruinieren, denn das Land - die größte Einnahmequelle - war ein unveräußerliches Majorat. Doch ich glaube fast, er hat trotzdem eine gigantische Summe abzweigen und verbergen können. Goldbarren? Tafelsilber? Juwelen? Ich weiß es nicht. Erinnern Sie sich, im Tagebuch erwähnt er öfter >Dinge, die man kaufen kann, um sie zu vernichten ; mit >sie< meinte er seine Verwandten. Außerdem schreibt er: >Ich habe meine Schönen sicher<. Haben Sie sein Siegel vergessen: >All meine Habe trage ich bei mir< - >Omnia mea mecum porto