Nun war es vorüber. In Londons Presse hatte die Sensation von Chatterham nicht einmal neun Tage überdauert. Zunächst trieb sie üppige Blüten in Form von Bildern, wilden Spekulationen und hektischen Neuigkeiten und verwelkte dann zwischen den Reklamespalten. Übrig blieb nur die Jagd nach Herbert, doch der war unauffindbar. Die mysteriöse Gestalt auf dem grünen Motorrad geisterte durch England wie durch einen Nebel. Natürlich war er an einem Dutzend Orte gesehen worden, doch niemals handelte es sich dabei wirklich um Herbert Starberth. Obwohl man davon ausging, daß er Richtung Lincoln gefahren war, um dort in einen Zug zu steigen, war es bisher nicht möglich gewesen, dies nachzuweisen; außerdem fehlte von dem grünen Motorrad weiterhin jede Spur. Scotland Yard verhielt sich so unauffällig, daß es unsichtbar blieb wie der Flüchtende selbst. Bisher jedenfalls hatte man aus dem grimmigen Gebäude am Westminster Pier noch nichts von einer Festnahme gehört.
Schon eine Woche nach der gerichtlichen Untersuchung schlief Chatterham wieder. Der Regen hörte nicht mehr auf, er tränkte die Ebene, dröhnte in den Traufen und zischte in den Kaminen, in denen Feuer gegen die Feuchtigkeit entfacht wurden. Der uralte Regen von England lockte vergangene Gerüche hervor wie Gespenster, so daß Lederfolianten mit Frakturschrift und Kupferstiche an den Wänden plötzlich lebendiger zu sein schienen als die Menschen. Rampole saß vor einem Kohlefeuer in Dr. Fells Arbeitszimmer. Außer dem Prasseln und Knacken im Kamin herrschte absolute Stille im Yew Cottage. Der Doktor und Mrs. Fell waren den Nachmittag über nach Chatterham gefahren. Ihr Gast, der allein in dem schmalen Sessel am Feuer saß, brauchte keine Lampe, Er blickte in den dichter werdenden Regen hinter den grauen Fensterscheiben und sah im Feuer Gestalten tanzen.
Der Bogen des Kamingitters schimmerte schwarz. In den Flammen sah er Dorothy Starberths Gesicht, das sich ihm während der Leichenschau kein einziges Mal zugewandt hatte. Es wurde zu viel getratscht. Stühle, die über den mit Sand bestreuten Fußboden kratzten. Stimmen, die durch das Gerichtszimmer hallten wie in einem Steinkrug. Anschließend war sie in einem alten, von Payne gesteuerten Wagen mit verhangenen Fenstern nach Hause gefahren. Sein Blick war dem von der hastigen Abfahrt aufgewirbelten Staub gefolgt, und er hatte Gesichter gesehen, die verstohlen aus den Häusern entlang des Weges spähten. Der Klatsch war ein heimlicher Postbote gewesen und hatte an jede Tür geklopft. Diese verdammten Narren, dachte er und fühlte sich plötzlich sehr elend.
Das Rauschen des Regens verstärkte sich, einige Tropfen zischten in den Flammen. Er starrte auf den Briefumschlag auf seinen Knien. Diese sinnlosen Strophen, die er von dem Blatt abgeschrieben hatte, das sie ihm gezeigt hatte. Er hatte Dr. Fell davon erzählt, doch der alte Privatgelehrte hatte sie sich bis jetzt noch nicht angesehen. Aus Pietätsgründen, wie auch vor dem Hintergrund des ersten Durcheinanders und der späteren Beerdigung, hatten sie dieses Problem zunächst hintangestellt. Nun aber, da Martin Starberth irgendwo da draußen im Regen seine letzte Ruhe gefunden hatte... Rampole schüttelte sich. Einige Gemeinplätze fielen ihm ein. Er wußte jetzt, daß sie schreckliche Wahrheiten waren.
»Wenn auch die Würmer diesen Leib zerstören...«, waren solche festen, ruhigen Worte, ausgesprochen unter einem leeren Himmel. In seiner Erinnerung fiel die Erde noch einmal auf den Sarg, gestreut mit der Bewegung eines Sämanns. Er sah die nassen, sturmzerzausten Weiden vor dem grauen Horizont, und er hörte den einförmigen Singsang der Totenmesse, der ihn so eigentümlich berührte, wie nur einmal zuvor, als er, noch ein Kind, in der Abenddämmerung entfernte Stimmen »Auld Lang Syne« hatte singen hören.
Was war das? Noch völlig vertieft in Kindheitserinnerungen bemerkte er plötzlich, daß er ein wirkliches Geräusch gehört hatte. Jemand klopfte an die Eingangstür des Hauses.
Er stand auf, zündete die Lampe auf dem Tisch an und leuchtete sich damit hinaus in den Flur. Als er die Tür öffnete, schlugen Regentropfen in sein Gesicht; er hielt die Lampe hoch.
»Ich möchte zu Mrs. Fell«, sagte die Stimme des Mädchens. »Ob sie mir wohl einen Tee anbietet?«
Sie blickte unter ihrem triefnassen Hutrand ernsthaft zu ihm auf. Der Schein der Lampe beleuchtete ihr Gesicht vor dem dunklen Hintergrund des Regens, und während sie sprach, blickte sie harmlos an ihm vorbei in den Flur.
»Fells sind nicht zu Hause«, sagte er. »Doch laß dich davon bitte nicht abhalten hereinzukommen. Ich weiß zwar nicht, ob ich einen richtigen Tee zubereiten kann...«
»Ich aber«, teilte sie mit.
Alle Steifheit verschwand. Sie lächelte. Kurz darauf hingen ihr nasser Hut und Mantel im Flur, und sie machte sich geschickt in der Küche zu schaffen, während er sich der guten Form halber den Anschein ernsthafter Beschäftigung gab. Niemals hat man doch, überlegte er, ein schlechteres Gewissen, als wenn man bei der Essenszubereitung mitten in der Küche herumsteht. Es ist, wie wenn man jemand beim Reifenwechseln zuguckt. Sobald man sich bewegt, um wirklich etwas zu tun, stößt man mit dem anderen zusammen. Und dann fühlt man sich, als ob man den Reifenwechsler aus reiner Bosheit geschubst hätte. Gesprochen wurde nicht viel, denn Dorothy war energisch und geräuschvoll mit der Teezubereitung beschäftigt.
Sie deckte im Arbeitszimmer vor dem Feuer einen kleinen Tisch. Die Vorhänge waren zugezogen, die Glut mit frischer Kohle neu entfacht. Eifrig und mit hochgezogenen Augenbrauen schmierte sie Butter auf Toast; im gelben Licht der Lampe sah er die Schatten unter ihren Augen. Heiße Muffins, Marmelade und ein starker Tee, das emsige Kratzen des Messers auf den Toasts und der warme, süßliche Geruch des darübergestreuten Zimtes...
Plötzlich blickte sie auf.
»Hör mal, willst du eigentlich deinen Tee nicht trinken?«
»Nein«, sagte er einfach. »Erzähl mir erst, was los ist.« Das Messer klirrte auf dem Teller, als sie es betont ruhig hinlegte. Ohne ihn anzusehen antwortete sie: »Es ist nichts. Ich mußte nur einfach aus dem Haus raus.«
»Iß du wenigstens etwas, ich habe keinen Hunger.«
»Ach, merkst du denn nicht, daß ich auch keinen habe?« fragte sie. »Es ist so gemütlich hier. Das Feuer, der Regen...« Sie spannte ihre Muskeln wie eine Katze und starrte auf eine Ecke des Kaminsimses. Zwischen ihnen dampften die Teetassen. Sie hockte auf einem alten durchgesessenen Sofa, dessen Bezug von einem müden Rot war. Der Umschlag, auf den er das Gedicht abgeschrieben hatte, war vor den Kamin gefallen und lag mit dem Gesicht nach oben. Sie nickte in die Richtung.
»Hast du Dr. Fell davon erzählt?«
»Ich hab' es erwähnt. Doch ich habe ihm noch nichts von deinem Einfall gesagt, daß es dabei möglicherweise um ein Versteck geht.«
Er stellte fest, daß er kaum wußte, wovon er sprach. Er erhob sich mit einer Bewegung, die so plötzlich kam wie ein Schlag vor die Brust. Seine Knie zitterten leicht, überdeutlich hörte er das Singen des Teekessels. Er sah ihre im flackernden Feuerschein hellen, ruhigen Augen, als er zum Sofa hinüberging. Einen Augenblick lang starrte sie ins Feuer, dann drehte sie sich zu ihm hin.
Als er wieder zu sich kam, starrte er selbst ins Feuer, die Hitze brannte in seinen Augen, von fern hörte er das Singen des Kessels und das Prasseln des Regens. Als er aufgehört hatte, sie zu küssen, ruhte sie lange Zeit reglos an seiner Schulter, die Augen fest geschlossen. Die Furcht, sie könnte ihn zurückweisen, war verflogen, das enorme Klopfen seines Herzens ließ nach und wich einem Frieden, der sich wie eine Decke um sie legte. Er hätte wie verrückt jubeln können und kam sich gleichzeitig ziemlich dumm vor. Als er sich zu ihr drehte, erschrak er, weil sie mit weit aufgerissenen Augen ausdruckslos die Zimmerdecke anstarrte.
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