Sir Benjamin konnte absolut nicht zustimmen. »Mann«, sagte er, »Sie - Sie sind - das ist ja das Verrückteste - ! Sie haben keine Beweise dafür, daß er ermordet wurde. Sie - «
»Oh doch, das habe ich«, sagte Dr. Fell.
Sir Benjamin starrte ihn an. Dorothy Starberth hatte sich erhoben und winkte abwehrend.
»Aber sehen Sie doch«, meinte der Chief Constable, »wenn diese wahnsinnige Vermutung wahr sein sollte - ich sage, wenn sie wahr sein sollte -, warum sollte er dann zwei Jahre warten? Der Mörder hätte doch einfach verschwinden können, oder etwa nicht? So hätte er sich jeder Verfolgung entziehen können.«
»Damit spätestens dann«, versetzte Dr. Fell, » wenn das Papier schließlich gefunden würde, seine Schuld ohne jeden Zweifel feststünde. Ein Geständnis! Das wäre es gewesen. Und wo er in der Welt auch hinkäme, wo immer er sich versteckte, stets hätte er dieses höllische Damoklesschwert über sich schweben. Und früher oder später würde man ihn sowieso finden. Nein, nein. Der einzig sichere Weg, die einzige Möglichkeit, überhaupt etwas zu tun, war, hierzubleiben und zu versuchen, das Dokument in die Hände zu bekommen. Schlimmstenfalls konnte er immer noch alles einfach abstreiten und dagegen ankämpfen. In der Zwischenzeit aber konnte er immer noch hartnäckig darauf hoffen, das Dokument zu vernichten, bevor es bekannt wurde.« Der Doktor machte eine kleine Pause und fügte dann mit matter Stimme hinzu:
»Wir wissen jetzt, daß er damit Erfolg hatte.«
Da waren schwere Schritte auf dem gebohnerten Parkett. Das Poltern platzte so unheimlich in den stillen Raum, daß alle aufblickten.
»Dr. Fell hat völlig recht, Sir Benjamin«, sagte die Stimme des Pfarrers. »Der verstorbene Mr. Starberth sprach kurz vor seinem Tode mit mir. Er sagte mir, wer ihn ermordete.«
Saunders stand am Tisch. Sein breites rosiges Gesicht war ausdruckslos. Er breitete die Arme aus und deklamierte betont langsam und schlicht:
»Gott steh' mir bei, Gentlemen. Ich dachte, er wäre verrückt geworden.«
Die silbernen Töne der Uhr schwangen durch die Halle.
»Aha«, nickte Dr. Fell. »Ich dachte mir fast, daß er es Ihnen gesagt hatte. Sie sollten die Information an den Mörder weitergeben. Haben Sie das getan?«
»Er sagte mir, ich solle mit seiner Familie reden, aber mit niemandem sonst. Ich tat dies, wie ich es versprochen hatte«, sagte Saunders und fuhr sich mit der Hand über die Augen.
Aus dem Schatten des breiten Sessels, in den sie sich wieder gesetzt hatte, sagte Dorothy:
»Das war die andere Sache, vor der ich mich fürchtete. Ja, er hat es uns erzählt.«
»Und Sie haben nie etwas davon gesagt?« rief der Chief Constable sehr plötzlich und schrill. »Sie wußten, daß ein Mann ermordet worden war, und niemand von Ihnen -?«
Saunders hatte seine Herzlichkeit und sein öliges Gehabe verloren. Er schien die Regeln englischer Sportlichkeit auch auf diese düstere und schreckliche Angelegenheit anwenden zu wollen, konnte aber offenbar die Gebrauchsanleitung nicht finden. Seine Hand fuchtelte umher.
»Man hört da Sachen«, sagte er mit Mühe, »und man weiß nicht recht - man kann es einfach nicht beurteilen. Man - nun, ich sage es Ihnen offen, ich dachte ganz einfach, er hätte den Verstand verloren. Es war unglaublich, mehr als unglaublich. Das war doch etwas, das niemals jemand tun würde, verstehen Sie mich?« Mit verstörten blauen Augen blickte er in die Runde, als versuche er, in der Luft etwas zu finden. »Es ist nicht so einfach!« fuhr er dann verzweifelt fort. »Noch bis gestern abend konnte ich es einfach nicht glauben. Doch dann mußte ich plötzlich denken: Was ist, wenn es am Ende doch stimmt? Wenn es tatsächlich einen Mörder gibt? Deshalb veranlaßte ich, daß wir - Dr. Fell, Mr. Rampole und ich - Wache hielten. Und jetzt weiß ich es. Jetzt weiß ich es. Aber ich weiß nicht, was ich nun machen soll.«
»Nun, wir anderen wissen es dafür um so besser«, bellte der Chief Constable. »Soll das etwa heißen, er hat Ihnen den Namen seines Mörders genannt?«
»Nein. Er sagte nur, es - es sei ein Mitglied seiner Familie.«
Rampoles Herz pochte heftig. Er rieb mit den Handflächen über die Knie seiner Hose, als wollte er etwas wegwischen. Jetzt wußte er, was den Pfarrer gestern abend beschäftigt hatte. Er erinnerte sich auch der unvermittelten, irritierenden Frage: »Wo ist Herbert?«, die Saunders stellte, als Dorothy Starberth angerufen hatte, um mitzuteilen, Martin habe das Haus verlassen. Ziemlich lahm hatte Saunders sie damit erklärt, Herbert sei ein zuverlässiger Mann in einer schwierigen Lage. Jetzt gab er eine weitaus bessere Erklärung.
Dorothy saß da, mit ihren verweinten Augen und einem leicht schiefen, abwesenden Lächeln. Dr. Fell bohrte mit seinem Stock auf dem Boden herum. Saunders starrte in die Sonne, als wollte er durch himmelaufwärts gerichtete Blicke für etwas Buße tun. Payne zog sich mit einem Buckel in sein kleines, graues Schneckenhaus zurück. Und Sir Benjamin musterte sie alle mit schräg gelegtem Kopf wie ein Pferd, das um die Ecke seines Stalles schaut.
»Nun gut«, meinte der Chief Constable mit sachlicher Stimme, »sieht so aus, als müßten wir jetzt das Schleppnetz nach Herbert auswerfen... «
Dr. Fell blinzelte nachsichtig zu ihm hoch.
»Haben Sie nicht etwas vergessen?« wollte er wissen.
»Vergessen?«
»Zum Beispiel«, sagte der Doktor nachdenklich, »haben Sie doch gerade Payne befragt. Warum fragen Sie ihn jetzt nicht, was er von der Sache weiß? Irgend jemand muß doch Timothys Aufzeichnungen in den Tresor des Gouverneurszimmers gelegt haben. Weiß er, was darin stand?«
»Aha«, sagte Sir Benjamin, aus seinen Gedanken gerissen. »Ah ja. Natürlich.« Er rückte seinen Kneifer zurecht. »Nun, Mr. Payne?«
Paynes Finger trommelten auf seine Backe. Er räusperte sich.
»Es mag so sein. Ich persönlich denke aber, Sie reden Unsinn. Wenn Starberth irgend etwas in der Richtung gemacht hätte, dann hätte er doch wohl mit mir darüber reden müssen. Ich war der gegebene Gesprächspartner. Nicht Sie, Mr. Saunders. Nicht Sie. Allerdings entspricht es vollkommen der Wahrheit, daß er mir einen versiegelten Umschlag mit dem Namen seines Sohnes darauf übergab, den ich in den Tresor bringen sollte.«
»Das meinten Sie doch, nicht wahr, als Sie davon sprachen, schon früher dort gewesen zu sein?« fragte Dr. Fell.
»Ja, genau. Das ganze Verfahren war höchst irregulär. Aber«, der Anwalt machte eine Geste des Unbehagens, als rutschten ihm die Manschetten über die Hände und behinderten ihn, »aber er war ein sterbender Mann, und er behauptete, der Umschlag stehe in entscheidendem Zusammenhang mit der Prozedur, die der Erbe durchlaufen mußte. Da ich nicht wußte, was das andere Dokument enthielt, konnte ich darüber natürlich nicht urteilen. Er starb ja sehr plötzlich. Möglicherweise gab es Dinge, die er unterlassen hatte, die aber im Rahmen des ganzen Rituals getan werden mußten. Also akzeptierte ich. Denn selbstverständlich war ich der einzige, der diese Mission übernehmen konnte. Ich hatte die Schlüssel.«
»Aber Ihnen gegenüber erwähnte er nichts von Mord?«
»Nein. Er bat mich lediglich, auf einem Zettel zu attestieren, daß er bei gesundem Verstand war. Den Eindruck hatte ich tatsächlich. Diesen Zettel schob er zusammen mit seinem Manuskript, das ich nicht einsehen durfte, in den Umschlag.«
Dr. Fell bürstete die Spitzen seines Schnurrbartes hoch und nickte wieder in seiner monotonen, mechanischen Weise.
»Dann hören Sie also heute zum ersten Mal, daß ein solcher Verdacht geäußert wird?«
»Allerdings.«
»Und wann legten Sie das Dokument in die Stahlkassette?«
»Noch in derselben Nacht, der Nacht seines Todes.«
»Ja, ja«, unterbrach sie der Chief Constable ungeduldig, »mir ist das jetzt alles klar. Wir kommen aber vom Thema ab, zum Henker. Hören Sie. Wir haben ein Motiv, weshalb Herbert Martin getötet haben könnte. Doch warum sollte Herbert seinen Onkel am Anfang dieser ganzen Geschichte ermordet haben? Hier entsteht doch ein komplettes Durcheinander... Und wenn er Martin getötet hat, warum ist er dann abgehauen? Wenn er zwei Jahre lang die Nerven bewahren mußte und sie auch erfolgreich behalten hat, warum macht er sich dann, gerade als er endlich sicher sein kann, aus dem Staub? Und was noch mehr zählt: Wohin fuhr er mit seinem Motorrad über die Straße hinterm Haus und mit einer gepackten Tasche - einige Stunden vor dem Mord? Es paßt irgendwie alles nicht zusammen... «
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