Laut hörte er seine eigene Stimme. »Ich - «, sagte er, »ich hätte nicht - «
Ihre ausdruckslosen Augen suchten seinen Blick; sie schienen aus einer fernen Tiefe heraufzuschauen. Ganz langsam legte sie ihre Arme um seinen Hals und zog ihn wieder zu sich herab. Ein wildes Herzklopfen, während der Kessel zu singen aufhörte und jemand durch einen warmen Nebel Zusammenhangloses in sein Ohr zu murmeln schien. Dann riß sie sich plötzlich von ihm los und sprang auf. Mit glühenden Wangen schritt sie im Schein der Lampe auf und ab, dann hielt sie vor ihm an.
»Ich weiß«, sagte sie atemlos und mit gepreßter Stimme. »Ich bin ein gefühlloses, kleines Biest. Ich bin einfach ein Lump, das ist alles. So etwas zu tun - und Martin... «
Er erhob sich energisch und nahm sie bei den Schultern.
»Denk nicht daran! Hör auf damit«, sagte er. »Das ist vorbei und nicht mehr zu ändern, verstehst du das nicht? Dorothy, ich liebe dich.«
»Glaubst du denn, ich liebe dich nicht?« rief sie. »Ich werde niemals - ich könnte niemals - jemanden so sehr lieben wie dich. Das macht mir Angst. Es ist das erste, woran ich morgens beim Aufwachen denken muß, und nachts träume ich sogar davon. So schlimm steht es. Aber wie schrecklich von mir, ausgerechnet jetzt an so etwas zu denken...«
Ihre Stimme schwankte. Er hatte seinen Griff an ihrer Schulter verstärkt, als wollte er sie von einem Sprung abhalten.
»Wir sind beide ein bißchen verrückt«, fuhr sie fort. »Ich werde nicht sagen, ich hätte dich gern. Das werde ich nicht zugeben. Wir sind von dieser entsetzlichen Sache beide noch zu aufgeregt...«
»Aber das wird doch nicht ewig so bleiben, oder? Mein Gott, kannst du denn nicht mit dieser sinnlosen Brüterei aufhören? Du weißt doch, was du mit diesen ganzen Befürchtungen erreichst. Nichts. Du hast selbst gehört, was Dr. Fell gesagt hat.«
»Ich kann es eben nicht erklären. Ich weiß, was ich machen werde - weggehen. Ich werde verschwinden - heute nacht - morgen - und dich vergessen - «
»Könntest du mich vergessen? Weil, wenn du das könntest - «
Er sah, daß sich ihre Augen mit Tränen füllten, und verwünschte sich selbst. Er bemühte sich, ruhig zu sprechen. »Es ist überhaupt nicht nötig zu vergessen. Es gibt nur eines, was wir tun müssen: Wir müssen diesen ganzen Quatsch aufklären, Mord und Fluch und diesen ganzen Unsinn, und dann bist du frei. Dann gehen wir beide zusammen weg und - «
»Würdest du mich haben wollen?«
»Kleines Dummchen!«
»Nun gut«, meinte sie nach einer Weile kläglich, »ich frage ja nur. Oh verdammt, wenn ich daran denke, daß ich noch vor einem Monat Romane gelesen und mich gefragt habe, ob ich vielleicht, ohne es zu ahnen, Wilfrid Denim liebe, und dabei staunte, wie man nur so viel Getue um diese Sache machen kann. Wenn ich mich dagegen jetzt so sehe... Ich habe mich völlig verrückt benommen, ich hätte alles getan - !« Unbändig warf sie ihren Kopf in den Nacken und lachte. Ihr schelmischer Gesichtsausdruck kehrte zurück. Sie sprach mit scherzhaftem Ton, und doch merkte man, daß es ihr todernst war. »Ich will hoffen, du meinst es ehrlich, alter Junge. Ich glaube beinahe, ich würde sterben, wenn es nicht wahr wäre.«
Rampole begann daraufhin, mit gewählten Ausdrücken zu erklären, wie unwürdig er ihrer doch sei. Junge Männer haben in solchen Situationen häufig diesen Drang, und Rampole ging sogar soweit, das auch zu glauben. Die Wirkung wurde nur dadurch leicht beeinträchtigt, daß er auf dem Höhepunkt seiner Ansprache mit der Hand auf den Butterteller schlug. Doch sie meinte nur, ihretwegen könne er sich in der Butter wälzen, und lachte über seine Betretenheit. Schließlich beschlossen sie, etwas zu essen. Sie hielt weiterhin alles für >lächerlich<, und Rampole eignete sich diese Vorstellung bedenkenlos an.
»Nimm doch noch was von dem albernen Tee«, forderte er sie auf. »Oder ein wenig von dieser dusseligen Irrenanstaltszitrone und eine Prise von dem schwachsinnigen Zucker. Mach schon, nimm. Es ist eine komische Sache, aber ich würde dir am liebsten den bescheuerten Toast an den Kopf knallen, haargenau weil ich dich so sehr liebe. Marmelade? Sie hat einen sehr niedrigen I.Q. Kann ich nur empfehlen. Außerdem - «
»Bitte! Dr. Fell kann jeden Moment hereinkommen. Hör auf, herumzutanzen! - Und würde es dir etwas ausmachen, das Fenster zu öffnen? Ihr ekelhaften Amerikaner mögt es immer so stickig. Bitte!«
Er schritt hinüber zum Fenster neben dem Kamin und schlug die Vorhänge zurück, wobei er seinen Monolog aber fortsetzte und ihren Akzent tadellos imitierte. Der Regen hatte nachgelassen. Er schob die Flügel des Fensters auf und blickte, während er den Kopf hinausstreckte, instinktiv zum Gefängnis hinüber. Was er sah, bewirkte keinen Schock der Überraschung oder Furcht, sondern versetzte ihn in ein gelassenes, kaltes Hochgefühl. Er sprach vergnügt und entschlossen.
»Diesmal«, sagte er, »werde ich den Kerl kriegen, ich werde ihn kriegen.«
Er nickte beim Sprechen und wandte dem Mädchen sein grimmiges Gesicht zu, während er hinaus in den Regen zeigte. Da war wieder ein Licht im Gouverneurszimmer des Chatterham-Ge-fängnisses.
Es sah aus wie eine Kerze, klein und flackernd in der Dämmerung. Sie warf nur einen kurzen Blick hinüber und packte ihn an der Schulter.
»Was hast du vor?«
»Ich hab's dir schon gesagt. Wenn der Himmel es zuläßt«, sagte er munter, »werde ich ihn windelweich prügeln.«
»Du willst doch nicht da hinauf?«
»Warum nicht? Du wirst schon sehen. Das ist alles, was du tun mußt - nur zusehen.«
»Ich lasse dich nicht gehen. Nein, ich meine es ernst. Wirklich! Du kannst doch nicht - «
Rampole stieß ein Lachen hervor, das er einem Bühnenschurken abgelauscht zu haben schien. Er griff die Lampe vom Tisch und stürmte hinaus in den Flur, so daß sie ihm wohl oder übel folgen mußte. Sie versuchte, ihm den Weg zu versperren.
»Ich habe dich gebeten, nicht zu gehen!«
»Das hast du allerdings«, gab er zurück und zwängte sich in seinen Regenmantel. »Würdest du mir bitte einmal in den Ärmel von dem Ding hier helfen, ja?... Gutes Mädchen! Was ich jetzt noch brauche«, knurrte er und inspizierte die Hutablage, »ist ein Stock. Ein schöner, schwerer Knüppel... Aha, dort. >Sind Sie bewaffnet, Lestrade?< >Ich bin bewaffnet!< Sogar reichlich.«
»Du, ich warne dich! Ich komme mit!« rief sie und griff nach seinem Arm.
»Gut, dann zieh deinen Mantel über. Ich weiß nicht, wie lange dieser kleine Spaßvogel da oben noch wartet. Wo wir gerade dabei sind, am besten nehme ich wohl eine Taschenlampe mit. Der Doktor hat hier gestern abend eine hingelegt, fällt mir ein... Also los.«
»Liebling«, hauchte Dorothy Starberth, »ich wußte, daß du mich mitnehmen würdest.«
Aufgeweicht und dreckbespritzt stapften sie über den Rasen zur Weide hinüber. Am Zaun hatte sie einige Schwierigkeiten mit ihrem langen Regenmantel. Als er sie hinüberhob, spürte er einen Kuß auf seiner nassen Backe. Allmählich ließ der Jubel, endlich diese Person im Gouverneurszimmer zu stellen, etwas nach. Das hier war kein Spaß. Es war eine widerliche, gefährliche Arbeit. Er wandte sich im Dämmerlicht um.
»Schau«, sagte er, »du gehst jetzt wirklich besser zurück. Wir machen das hier nicht zum Vergnügen, und ich möchte nicht, daß dir etwas zustößt.«
In der Stille hörte er den Regen auf seinen Hut tropfen. Nur dieses einsame Licht schimmerte durch die Regenwand, flackerte weiß über der Wiese. Als sie antwortete, klang es leise, kühl und entschlossen.
»Das weiß ich ebensogut wie du. Aber ich will es wissen. Außerdem mußt du mich mitnehmen, denn du findest doch gar nicht allein zum Gouverneurszimmer, wenn ich dir nicht den Weg zeige. - Schach und Matt, mein Lieber.«
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