»Der Todestrakt«, sagte Dr. Fell.
Danach sprach keiner mehr. Sie forschten nicht mehr nach der Bedeutung bestimmter Dinge, die sie sahen, und fragten auch ihren Führer nicht danach. Kurz bevor sie das Treppenhaus zur ersten Etage erreichten, entdeckten sie im flackernden Licht der Streichhölzer die Eiserne Jungfrau, daneben die Öfen für gewisse Holzkohlefeuer. Das Gesicht der Eisernen Jungfrau zeigte ein schläfriges, sattes Lächeln, und von ihren Lippen herab schaukelten Spinnen in ihren Netzen; Fledermäuse flatterten im Raum umher, so daß sie nicht lange verweilten.
Rampole hielt die Hände fest zusammengepreßt. Am meisten störte ihn, daß ständig etwas gegen sein Gesicht strich, und er hatte das Gefühl, als ob ihm etwas den Nacken hinaufkrieche. Und man konnte die Ratten hören. Als sie schließlich vor einer großen, eisenbeschlagenen Tür haltmachten, die zu einer Galerie im ersten Stockwerk führte, wußte er, daß sie es geschafft hatten. Er hatte ein Gefühl, als könne er, nachdem er auf einem Ameisenhaufen gesessen hatte, in ein kühles, klares Wasser eintauchen.
»Ist sie offen?« fragte der Pfarrer mit irritierend lauter Stimme.
Die Tür knarrte und quietschte, als Dr. Fell sie mit Unterstützung des Chief Constable aufschob. Sie war verzogen und nur sehr schwer über den Steinboden zu schieben. Eine Staubwolke wirbelte auf.
Dann standen sie an der Schwelle des Gouverneurszimmers und sahen sich um.
»Ich würde sagen, wir sollten nicht sofort hineingehen«, murmelte Sir Benjamin nach längerem Schweigen. »Wie dem auch sei... Hat jemand von Ihnen diesen Raum früher schon einmal gesehen? ... Nein? Das hatte ich auch nicht erwartet. Hm. An der Einrichtung kann sich nicht viel geändert haben, oder?«
»Die meisten Möbel sind noch vom alten Anthony«, sagte Dr. Fell.
»Der Rest gehörte seinem Sohn Martin, der hier ebenfalls Gouverneur war, bis er im Jahre 1837 - nun, starb. Beide hinterließen Anweisung, den Raum nicht zu verändern.«
Es war ein großes Zimmer, jedoch mit ziemlich niedriger Decke. Unmittelbar gegenüber der Tür, in der sie standen, befand sich das Fenster. Diese Seite des Gefängnisses lag im Schatten, außerdem ließen die Efeuranken an der massiven Fenstervergitterung nicht sehr viel Licht hinein. Darunter standen noch Pfützen von Regenwasser auf dem unebenen Fußboden. Ungefähr sechs Fuß links vom Fenster befand sich die Balkontür. Sie war geöffnet und stand fast im rechten Winkel von der Wand ab. Lose Ranken wilden Weines, die beim Öffnen der Türe auseinandergerissen worden waren, hingen vor dem Eingang herunter, so daß von dort kaum mehr Licht hereindrang als durch das Fenster.
Offensichtlich hatte sich vor langer Zeit einmal jemand bemüht, diesem düsteren Ort einen Hauch von Gemütlichkeit zu verleihen. Die steinernen Wände waren mit Paneelen aus schwarzem Walnußholz verkleidet, das jetzt aber langsam verrottete. In der Wand zur Linken, genau zwischen einem hohen Schrank und einem Bücherregal voller großer verblaßter Kalbslederbände, war ein gemauerter Kamin eingelassen, auf dessen Sims eine Reihe leerer Kerzenhalter stand. Ein schimmeliger Ohrensessel war vor den Kamin gerückt. Dort, erinnerte sich Rampole, hatte wohl der alte Anthony mit seiner Schlafmütze vor der Glut gesessen, als er das Klopfen an der Balkontüre hörte und die geflüsterte Einladung, doch zu den Toten hinauszukommen...
In der Mitte des Zimmers gab es einen alten, dick mit Staub und Schutt bedeckten Schreibtisch, neben dem ein einfacher Holzstuhl stand. Rampole starrte hinüber. Ja, dort im Staub, wo letzte Nacht die Fahrradlampe gestanden haben mußte, war ein schmaler, rechteckiger Abdruck zu sehen. Und dort, auf dem hölzernen Stuhl gegenüber der rechten Wand, dort hatte also Martin Starberth gesessen, den Lichtstrahl auf...
Aha. In der Mitte der Mauer auf der rechten Seite befand sich, bündig mit dieser, die Tür zum Tresor oder Safe, oder wie immer er genannt wurde: eine einfache Eisentür, sechs Fuß hoch und halb so breit, jetzt stumpf vor Rost. Unmittelbar unter dem eisernen Griff befand sich eine seltsame Vorrichtung, eine Art flachen Kästchens mit einem großen Schlüsselloch auf der einen Seite und etwas, das einer Metallklappe über einem kleinen Drehknopf glich, auf der anderen.
»Die Berichte waren also korrekt«, sagte Dr. Fell unvermittelt. »Ich dachte es mir. Andernfalls wäre es allzu leicht gewesen.«
»Was?« fragte der Chief Constable etwas gereizt.
Der Doktor wies mit einem Stock hinüber. »Angenommen, ein Einbrecher wollte das Ding knacken. Wenn da nur ein Schlüsselloch wäre, könnte er sich einen Abdruck von dem Schloß machen und einen, wenn auch ziemlich großen Nachschlüssel anfertigen. Aber mit dieser Vorrichtung gelangte er wohl kaum hinein, ohne die ganze Wand mit Dynamit in die Luft zu jagen.«
»Mit welcher Vorrichtung?«
»Der Buchstabenkombination. Ich hörte, es wäre eine daran. Die Idee ist nicht neu, wissen Sie. Metternich hatte schon so etwas, und Talleyrand spricht von Maporte qu'on peut ouvrir avec un mot, comme les quarante voleurs de Scheherazade. Sehen Sie diesen Knopf mit dem beweglichen Metallding darüber? Das Metallstück verdeckt eine Wählscheibe wie bei einem modernen Safe, außer daß hier an Stelle der Zahlen die sechsundzwanzig Buchstaben des Alphabets verwendet wurden. Sie müssen an dem Knopf drehen und das vorher festgelegte Codewort Buchstabe für Buchstabe einstellen, bevor die Tür überhaupt geöffnet werden kann. Der bloße Schlüssel ohne dieses Wort ist nutzlos.«
»Vorausgesetzt, jemand wollte das verflixte Ding überhaupt öffnen«, sagte Sir Benjamin.
Man schwieg erneut, allen war unbehaglich zumute. Der Pfarrer wischte sich, eine eindeutige Geste, die Stirn mit einem Taschentuch ab und betrachtete ein großes Himmelbett vor der rechten Wand. Es war immer noch mit mottenzerfressener Wäsche und verfaulenden Kissen bezogen; an schwarzen Messingringen hingen Vorhangfetzen vom Betthimmel. Daneben stand ein Nachttisch, darauf ein Kerzenhalter. Wieder mußte Rampole an einige Zeilen aus Anthonys Manuskript denken: Ich hatte meine Kerze für die Nacht geputzt, die Schlafmütze aufgesetzt und wollte im Bett noch etwas lesen, als ich sah, daß sich zwischen meinen Bettlaken etwas bewegte... Schnell wandte der Amerikaner seinen Blick ab. Immerhin hatte nach Anthony noch eine Person in diesem Zimmer gelebt und war dort gestorben. Drüben, neben dem Safe, stand ein verglaster Sekretär mit einer Minervabüste und einer dicken Bibel darauf. Niemand von ihnen, außer vielleicht Dr. Fell, konnte sich von der Vorstellung befreien, man befände sich an einem gefährlichen Ort, wo man sich nur sehr vorsichtig und ohne etwas anzurühren bewegen durfte. Der Chief Constable schüttelte sich.
»Na gut«, begann Sir Benjamin grimmig, »da wären wir also. Ich will mich hängen lassen, wenn ich weiß, was wir jetzt tun sollen. Dort hat wohl der arme Kerl gesessen. Da drüben hatte er die Lampe abgestellt. Keine Anzeichen für einen Kampf - nichts zerbrochen - «
»Übrigens«, unterbrach ihn Dr. Fell nachdenklich, »ich frage mich, ob der Tresor noch geöffnet ist.«
Rampole spürte, daß sich seine Kehle zusammenzog.
»Mein lieber Doktor«, meinte Saunders, »glauben Sie, daß die Starberths das billigen... Also, ich muß schon sagen!«
Dr. Fell stapfte bereits an ihm vorbei, die Metallspitzen seiner Stöcke klirrten auf dem Boden. Sir Benjamin richtete sich auf und wandte sich scharf an Saunders.
»Wir haben hier einen Mordfall, sollten Sie bedenken! Wir müssen nachschauen. Doch halt! - Warten Sie eine Sekunde, Doktor!« Gemessen wie ein Gaul schritt er hinüber, seinen langen Kopf vorgestreckt. Mit gesenkter Stimme fügte er hinzu: »Glauben Sie, daß das klug ist?«
»Außerdem bin ich neugierig«, murmelte der Doktor, als ob er den anderen gar nicht gehört hätte, »auf welchem Buchstaben die Kombination jetzt steht. Würden Sie ein wenig zur Seite treten, alter Knabe? Hier... Donnerwetter! Das Ding ist ja frisch geölt!«
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