Er schob die Metallklappe hin und her, während sich die anderen um ihn drängten.
»Sie steht auf dem Buchstaben >N<. Möglicherweise ist das der letzte Buchstabe des Wortes, oder auch nicht. Egal, los jetzt.«
Mit einem listigen Schmunzeln zwischen den Kinnrollen drehte er sich zu ihnen um und blinzelte spöttisch über die Brillengläser, als er den Tresorgriff packte.
»Alle fertig? Jetzt gut aufgepaßt!« Er drehte den Griff, und die Tür quietschte langsam in den Scharnieren. Mit scharfem Klirren fiel einer seiner Stöcke zu Boden.
Nichts kam heraus...
Rampole wußte nicht, was er sonst erwartet hatte. Er stand dicht neben dem Doktor, während die anderen instinktiv zurückgewichen waren. Während eines kurzen Momentes der Stille hörten sie hinter der Täfelung die Ratten rascheln.
»Nun?« forschte der Pfarrer mit erhobener Stimme.
»Ich sehe nichts«, sagte Dr. Fell. »Hier, junger Freund, zünden Sie ein Streichholz an, ja?«
Rampole verwünschte sich selbst, als er den Kopf des ersten Streichholzes abbrach. Er nahm ein neues, doch die sauerstoffarme Luft im Tresor ließ auch dieses verlöschen, kaum daß er es hineinhielt. Er betrat das Kabinett und versuchte es noch einmal. Es war modrig und feucht darin, und Spinnweben streiften seinen Nacken. Jetzt endlich brannte eine winzige bläuliche Flamme in der Höhlung seiner Hand.
Eine steinerne Kammer, sechs Fuß hoch und drei oder vier Fuß tief. An der Rückseite Regale, darauf etwas, das wie verrottete Bücher aussah. Das war alles. Die Beklommenheit wich, seine Hand wurde ruhig.
»Nichts«, sagte er.
»Es sei denn«, meinte Dr. Fell kichernd, »es ist schon 'raus.«
»Sehr witzig«, tadelte Sir Benjamin. »Wir sind hier ja regelrecht in einem Alptraum herumgestolpert. Ich bin ein praktischer Mann, ein vernünftiger Mann. Aber ich gebe Ihnen mein Wort, Gentlemen, einen Moment lang hat mir dieser verdammte Ort hier tatsächlich einen Schauer über den Rücken gejagt. Jawohl.«
Saunders wischte sich mit seinem Taschentuch unterm Kinn. Er hatte auf einmal eine glänzend rosa Gesichtsfarbe und sog stürmisch und mit ausladender, salbungsvoller Geste die Lungen voll Luft.
»Mein lieber Sir Benjamin«, protestierte er dröhnend, »bitte nichts davon! Wie sagten Sie? - Ein praktischer Mann. Als Diener der Kirche müßte ich, wie Sie wissen, doch wohl der praktischste und nützlichste aller hier Versammelten sein, wenn es um - äh - Dinge wie diese geht. Alles Unsinn! Purer Unsinn!«
Er war insgesamt so erleichtert, daß er kurz davor schien, Sir Benjamin die Hand zu schütteln. Der aber blickte finster über Rampoles Schulter.
»Sonst noch was?« fragte er.
Der Amerikaner nickte. Er hielt die Streichholzflamme nach unten und leuchtete umher. Ein Abdruck in der dicken Staubschicht, ein rechteckiger Abdruck von ungefähr zwanzig mal vierzig Zentimetern, bewies eindeutig, daß dort etwas gestanden hatte. Was auch immer es gewesen war, es war weggenommen worden. Er hörte kaum die Aufforderung des Chief Constables, den Tresor wieder zu schließen. Der letzte Buchstabe der Kombination war also ein >N<. Irgend etwas stieg in ihm hoch, etwas Wichtiges, aber Unangenehmes. Worte, die in der Abenddämmerung hinter einer Hecke gesagt worden waren, Worte, die ein betrunkener, hochmütiger Martin Starberth seinem Vetter Herbert zugerufen hatte, als sie die beiden gestern nachmittag trafen. »Du kennst das Wort dafür sehr gut«, hatte Martin gesagt. »Das Wort heißt Galgen!«
Er erhob sich, klopfte den Staub von seinen Knien und schob die Tür zu. Irgend etwas hatte im Tresor gestanden, eine Kassette aller Wahrscheinlichkeit nach, und derjenige, der Martin Starberth ermordet halte, hatte sie gestohlen.
»Jemand hat - « sagte er unwillkürlich.
»Ja«, sagte Sir Benjamin. »Das scheint ziemlich klar zu sein. Man hätte doch nicht all die Jahre so einen komplizierten Firlefanz durchgeführt, wenn überhaupt kein Geheimnis dabei gewesen wäre. Doch es könnte auch noch etwas anderes dahinterstecken. Kommt Ihnen das nicht auch so vor, Doktor?«
Dr. Fell schlich bereits um den großen Schreibtisch herum, so, als wollte er ihn beschnüffeln. Mit einem Stock klopfte er gegen den Stuhl, bückte sich, wobei sein riesiger Haarschopf flatterte, und spähte darunter. Geistesabwesend blickte er auf.
»Was?« murmelte er. »Bitte um Entschuldigung. Ich mußte gerade an etwas anderes denken. Was sagten Sie?«
Wieder nahm der Chief Constable seine Schulmeistermiene an; er schob das Kinn vor und preßte die Lippen zusammen, um anzudeuten, daß er etwas Wichtiges zu sagen hatte. »Schauen Sie«, sagte er, »schauen Sie. Glauben Sie nicht, daß es mehr als nur ein Zufall sein muß, daß so viele Starberths auf diese besondere Weise gestorben sind?«
Dr. Fell machte ein Gesicht, als habe man ihm, wie in einer Filmkomödie, gerade mit einer Keule auf den Kopf geschlagen.
»Brillant!« sagte er. »Wirklich brillant, alter Knabe. Doch, ja. Begriffsstutzig wie ich bin, beginnt sich allmählich selbst mir dieser Verdacht aufzudrängen. Was weiter?«
Sir Benjamin war keineswegs belustigt. Er verschränkte seine Arme. »Ich glaube, Gentlemen«, verkündete er, scheinbar alle ansprechend, »wir kommen mit dieser Untersuchung besser voran, wenn wir anerkennen, daß letztlich ich hier der Chief Constable bin und daß es mir beträchtliche Schwierigkeiten gemacht hat, die Sache zu übernehmen - «
»Doch, doch, das weiß ich ja. Ich habe ja gar nichts gesagt.« Dr. Fell kaute an seinem Schnurrbart und konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen. »Mich hat nur diese verdammt feierliche Art gereizt, mit der Sie das Offensichtliche verkünden. Das ist alles. Sie könnten noch mal ein Staatsmann werden, mein Sohn. Bitte fahren Sie fort.«
»Mit Ihrer Erlaubnis«, lenkte der Chief Constable ein. Er versuchte, die schulmeisterliche Miene beizubehalten, doch ein Lächeln schlich sich in sein sommersprossiges Gesicht. Gutmütig rieb er seine Nase und sagte dann ernsthaft: »Nein, also hören Sie. Sie saßen doch alle draußen auf dem Rasen und beobachteten das Fenster, oder? Mit Sicherheit hätten Sie doch alles Ungewöhnliche, das hier oben passiert wäre, bemerkt - einen Kampf, das Umstürzen der Lampe oder ähnliches. Ja? Sie hätten wohl sicherlich auch einen Schrei gehört.«
»Höchstwahrscheinlich.«
»Es hat aber kein Kampf stattgefunden. Sehen Sie doch, wo der junge Starberth gesessen hat. Er hatte die einzige Tür des Raumes im Auge, außerdem hatte er sie mit hoher Wahrscheinlichkeit abgeschlossen, wenn er wirklich so nervös war, wie Sie sagen. Selbst wenn ein Mörder vor ihm in den Raum gelangt wäre, hätte es für ihn doch keine Möglichkeit gegeben, sich zu verstecken -außer - warten Sie! Der Schrank...«
Er eilte hinüber und öffnete die Türen. Dichter Staub flog auf.
»Hier ging's also auch nicht. Nichts als Staub und vermodernde Klamotten... Nanu. Hier gibt's doch tatsächlich noch einen von diesen weiten Schnürmänteln mit Biberkragen, wie bei Georg IV. -Und Spinnen!« Er schlug die Türen zu und drehte sich um. »Da drin hat sich niemand versteckt, das würde ich beschwören. Und sonst gibt es keine Möglichkeit. Mit anderen Worten, der junge Starberth konnte nicht überrascht werden, ohne daß es einen Kampf oder zumindest Hilferufe gegeben hätte... Woher also, frage ich, wollen Sie wissen, daß der Mörder nicht erst hereingekommen ist, nachdem der junge Starberth vom Balkon gefallen war?«
»Wovon, zum Teufel, reden Sie?«
Sir Benjamins Lippen umspielte ein knappes, geheimnisvolles Lächeln.
»Nehmen Sie es mal so«, sagte er mit Nachdruck. »Haben Sie wirklich gesehen, daß dieser Mörder ihn hinunterstieß? Haben Sie ihn fallen sehen?«
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