»Wir sind beide Mitglieder eines Geheimbundes.«
»Was für eine Art von Geheimbund?«
Nur äußerst widerwillig sprach er weiter: »Wir haben uns dem Streben nach Wissen um des Wissens willen verschrieben. Ich meine damit die Erforschung, Untersuchung und das Studium geheimen Wissens. Mit derart esoterischem Wissen kann man sich heutzutage nur noch im Untergrund befassen. Es ist unzulässig geworden. Vielleicht war es schon immer etwas, was nur eine eingeweihte Elite zu schätzen wusste, der Wissen über alles andere ging. Wir bewahren die alten Traditionen und die alten Weisheiten und setzen sie fort.«
»Wie?«
»Wir sind Eingeweihte«, stammelte er. »Wir erhalten die geheimen Rituale, die geheimen Bücher …«
»Jetzt kommen wir endlich voran. Und um was geht es in diesen Büchern?«
»Um alles. Medizin. Sterne. Zahlen. Aber sie haben alle eines gemeinsam.«
Er zögerte.
»Und was ist das?«, hakte ich nach.
»Osiris. Er ist unser Gott.«
Osiris. Der König, der gemäß der alten Geschichte einstmals die Beiden Länder regiert hatte, aber verraten und ermordet wurde und dann, durch die Liebe und Treue seiner Gemahlin Isis, aus dem Totenreich wiederauferstanden war. Osiris, den wir als einen Mann mit schwarzer oder grüner Haut als Sinnbild seiner Fruchtbarkeit darstellen – sein Geschenk der Wiederauferstehung und des ewigen Lebens –, der in die weißen Verbände des Todes gewickelt ist und den Krummstab, die Geißel und die Weiße Krone trägt. Osiris, von dem behauptet wird, dass er uns alle nach unserem Tod erwartet, um das Totengericht über uns zu halten, der Oberste Richter, der nur darauf wartet, unsere Beichte zu hören.
Ich lehnte mich zurück, und eine ganze Weile sah ich Nacht aufmerksam an. Mir war, als sei dieser Mann, den ich für einen engen Freund hielt, fast so etwas wie ein Fremder für mich geworden.
»Ich entschuldige mich für meine Wortwahl und Ausdrucksweise. Unsere Freundschaft bedeutet mir viel, und ich möchte sie nicht gefährden. Mir blieb nur keine andere Wahl. Ich musste dich dazu bringen, mir das hier zu erzählen. Du bist meine einzige mögliche Verbindung zu diesem Mann.«
Er nickte, und so ganz allmählich wurde unser Miteinander wieder etwas herzlicher.
»Du hast gesagt, ich könnte dir helfen«, meinte er irgendwann. »Was hast du damit gemeint?«
»Das erkläre ich dir sofort. Sag mir vorher bitte eines: Hat dieser Geheimbund ein Symbol?«
Wieder zögerte er.
»Unser Symbol ist ein schwarzer Kreis. Das ist das Zeichen dessen, was wir die Nachtsonne nennen.«
Endlich hatte ich die Antwort auf dieses Rätsel gefunden. Ich zitierte seine Worte: »Die Sonne ruht in Osiris, Osiris ruht in der Sonne.«
Misstrauisch sah er mich an.
»Mein Freund, eines muss ich wissen: Als ich dir das Relief mit der zerstörten Sonne beschrieb, und als ich dich nach der Sonnenfinsternis fragte und wir in die Astronomischen Archive gegangen sind … da hattest du die Verbindung bereits erkannt, die da bestand. Stimmt das?«
Er nickte kläglich.
Eine ganze Weile ließ ich ihn an dem spitzen Haken seiner Schuldgefühle baumeln.
»Was bedeutet das Ganze?«, fragte ich schließlich.
»Einfach umrissen bedeutet es, dass sich in der finstersten Stunde der Nacht die Seele des Re mit dem Leib und der Seele des Osiris vereinigt. Das erlaubt es Osiris, und damit allen Toten der Beiden Länder, wiedergeboren zu werden. Es ist der heiligste und bedeutsamste Moment der gesamten Schöpfung. Aber noch nie hat ein Sterblicher ihn miterlebt. Er ist das größte Mysterium, das es gibt.«
Er schwieg einen Moment und war nicht gewillt, mir in die Augen zu sehen.
»Ich hatte dich das schon einmal gefragt. Und dieses so entscheidende Detail hast du mir nicht verraten. Ich hätte Sobek viel schneller als Täter identifizieren können. Ich hätte Menschenleben retten können.«
Auf seinem Gesicht machte sich neuerlich Frustration breit.
»Wir sind ein Geheimbund!«, erwiderte er »Entscheidend ist bei dem Begriff das Wort ›geheim‹! Und ich habe seinerzeit wirklich keinen zwingenden Grund gesehen, die geheimen Schwüre zu brechen, die ich geleistet habe.«
»Und wie sich herausgestellt hast, lagst du damit verkehrt«, antwortete ich.
Ich musste ihm zugutehalten, dass er nickte und ein erschüttertes Gesicht machte.
»Wir scheinen nicht einmal in der Lage zu sein, die Konsequenzen unserer kleinsten Taten abzuschätzen, das liegt außerhalb unserer Macht. Ich versuche, mein Leben im Griff zu haben, aber wie ich gerade erlebe, hat das Leben mich im Griff. Und in diesem Moment fühle ich mich, als hätte ich das Blut unschuldiger Menschen auf dem Gewissen.«
»Nein, das hast du nicht. Aber solltest du das Bedürfnis verspüren, moralische Buße zu tun, dann hilf mir jetzt. Bitte.«
Er nickte.
»Ich schätze mal«, sagte er, »denn das wäre nur logisch, dass Sobek entweder für Eje oder für Haremhab arbeitet, aller Wahrscheinlichkeit nach für Letztgenannten, denn der profitiert in großem Maße vom Tod des Königs.«
»Und falls das stimmt, ist es zwingend erforderlich, dass er geschnappt wird, bevor er weiteres Unheil anrichten kann. Haremhabs Staatsschiff ankert in der Nähe des Malqata-Palasts. Er hat Anchesenamun einen Heiratsantrag gemacht. Sie überlegt sich sein Angebot.«
»Mögen die Götter uns vor diesem Los bewahren«, erwiderte er ruhig. »Sag mir, was du vorhast.«
»Ich glaube, dass Sobek von Visionen besessen ist. Überdies glaube ich, dass ihn halluzinogene Substanzen und Mysterien faszinieren. Und er scheint davon fasziniert zu sein, was in dem kurzen Moment zwischen Leben und Tod passiert. Ich glaube, dass er seinen Opfern deshalb Drogen verabreicht und ihnen dabei zuschaut, wie sie sterben. Er sucht nach etwas in diesem Augenblick. Hält das einem Vergleich mit den Interessen deines Geheimbundes stand – der Augenblick von Finsternis und Erneuerung?«
Nacht nickte.
»Jetzt ist Folgendes passiert: Pentu, der Leibarzt des Königs, hat mir gegenüber erwähnt, dass es da einen sehr seltenen Pilz gibt, der angeblich die Macht göttlicher Visionen verleiht. Er sagte, das Einzige, was man mit Bestimmtheit darüber wisse, sei, dass er nur im entlegenen Norden der Welt wächst. Weißt du irgendetwas darüber?«
Nacht nickte.
»Natürlich. Er wird in den geheimen Büchern erwähnt. Ich kann dir sehr viel mehr darüber erzählen. Es wird behauptet, dass es sich dabei um einen Pilz mit einem roten Hut handelt, der nur in den abgeschiedenen Wäldern der Silberbäume mit den goldenen Blättern gedeiht. Es wird viel darüber spekuliert, ob er überhaupt existiert. Niemand hat so ein Ding jemals in der Hand gehalten . Es wird aber behauptet, er sei ein Mittel, durch das seine Priester für die Welt sterben, die Götter schauen und dann ins Leben zurückkehren. Es wird ebenfalls behauptet, dass es sich um ein sehr starkes Gift handelt, das unsachgemäß dosiert zu Wahnsinn führen kann. Ich habe das Ganze immer für eine Art esoterische Fabel zur spirituellen Erleuchtung gehalten und nicht für etwas, was in der realen Welt existiert.«
»Hier zählt jetzt nur, dass er existieren könnte , und wenn jemand einen solchen Pilz hätte, wäre dieses Ding für einen Mann wie Sobek ein Objekt der zwanghaften Begierde. Ein Traumbild ist zuweilen sehr viel beeindruckender als jede Realität …«, sagte ich.
Nacht schüttelte zweifelnd den Kopf.
»Dein Plan hängt von etwas ab, das nicht existiert.«
»Sobek hat die Macht der Fantasie gegen uns eingesetzt. Mithin ist es so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit, ihn jetzt mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Oder etwa nicht?«
»Was für eine merkwürdige Welt das ist«, erwiderte er. »Kriminalbeamte der Medjai beschreiben ihre Arbeit mit poetischen Worten, in denen es um Gerechtigkeit geht.«
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