Mein Bauch, der vor jenen Tagen in Paris bloß das dunkle Klosterbrot kannte, zog sich zusammen, mein Mund wurde mir wässrig - und nach der ersten Todsünde, der Wollust im Geiste, beging ich an jenem Morgen schon die zweite: die der Völlerei im Geiste. Mit knurrendem Magen und beschämt gesenktem Blick schritt ich hinter Philippe de Touloubre einher, vorbei an den Backstuben, wo Diener, Mägde und Bürgersfrauen aus und ein gingen, runde Brote unter den Armen, die in der frischen Morgenluft noch dampften. Manchmal konnte ich durch die geöffneten Verschläge einen raschen Blick erhaschen auf Backöfen, in denen Holzkohlen glühten, und auf hölzerne Regale, auf denen kleine, tellerförmige Kuchen zu kunstvollen Türmen aufgebaut waren.
Endlich, es kam mir wie eine kleine Ewigkeit vor, obgleich wir nur ein paar Dutzend Schritte gegangen waren, verflüchtigte sich der verführerische Duft und ich roch wieder den Gestank und die Pestilenz von Paris, was mich an die Endlichkeit unseres Daseins und den Schmutz unserer Sünden erinnerte.
Wir standen vor einem wuchtigen Bau — halb Patrizierhaus, halb Burg— mit schmalen, hohen Fenstern und einer großen Tür in der Front, deren mächtige, eisenbeschlagene Flügel weit geöffnet waren. Davor allerdings standen zwei Sergeanten de la Douzaine und hatten die Hellebarden gekreuzt.
Als sie uns erblickten, hoben sie ihre Waffen, grüßten respektvoll und ließen uns ohne weitere Fragen passieren. Wir gelangten auf einen engen, düsteren Innenhof.
»Wo sind wir?«, fragte ich. Mir schien dieser Ort bedrückend zu sein, finster, bedrohlich.
»Im Grand Châtelet«, antwortete der Inquisitor knapp und schritt zu einer steinernen Treppe, die auf eine Galerie im ersten Obergeschoss führte.
Ich musste in diesem Moment an unseren Herrn Jesus Christus denken, wie er vor Pontius Pilatus geführt wurde. So düster, glaubte ich, musste der Palast ausgesehen haben, in dem der Prokurator über den Messias zu Gericht gesessen und später seine Hände in Unschuld gewaschen hatte. Et Pilatus adiudicavit fieri petitionem eorum dimisit autem Ulis eum qui propter homicidium et seditionem missus fuerat in carcerem quem petebant Iesum vero tradidit voluntati eorum. Mich schauderte.
Philippe de Touloubre führte mich, vorbei an weiteren Wachen, in einen großen Saal, der in ein helles, jedoch seltsames Licht getaucht war, denn die Sonne flutete durch große Fenster mit unterschiedlich dunklem, gelbem Glas. Ein großer Mann in scharlachroter Tracht stand an einem Schreibpult. Er blickte auf, als er unsere Schritte vernahm, und starrte uns finster an.
»Ihr kommt ein wenig spät, verehrte Brüder«, knurrte Ambroise de Lore. Er strich sich mit der Rechten durch seinen gestutzten Bart; an zwei Fingern funkelten goldene Ringe, mit Rubinen besetzt, die wie erstarrte Blutstropfen aussahen.
»Ich wollte nicht mit leeren Händen kommen, Durchlaucht«, antwortete Philippe de Touloubre und verneigte sich leicht. Dann führte er in knappen Worten aus, was wir am Körper des Toten gefunden und welche Schlussfolgerungen wir daraus gezogen hatten. Meinen Namen erwähnte er nicht — wohl aber den des Baders Nicolas Garmel —, ja, er stellte mich nicht einmal vor. Auch der Prévôt royal beachtete mich nicht. Es war, als wäre ich ein Geist, durch den beide hindurchsähen. Ich war klug genug, mich nicht zu rühren und mein Gesicht im Dunkel der Kapuze zu verbergen. Der Inquisitor mochte seine Gründe haben, meinen Namen aus diesen Ermittlungen herauszuhalten.
Zuletzt erwähnte Philippe de Touloubre, dass die beiden Sergeanten die Dirne verhaftet hatten, und bat darum, dass man ein aufmerksames Auge auf sie habe, sie jedoch nicht der peinlichen Befragung unterziehe. Der Inquisitor befürchtete wohl, dass Jacquette, sollte sie von den Sergeanten gefoltert werden, sterben würde, noch ehe sie uns gegenüber ihre Seele hätte retten können, indem sie uns endlich alles sagte, was sie wusste.
Ambroise de Lore nickte widerwillig. »Meine Männer haben eigentlich Besseres zu tun, als auf Freudenmädchen aufzupassen«, brummte er. »Seltsame Gerüchte gehen um in der Stadt. Mehr als das übliche Geschwätz der selbst ernannten Wanderprediger und Marktweiber über die Sünden dieser Welt und die drohende Eroberung unserer Stadt durch die Burgundischen oder Englischen. Irgendetwas braut sich zusammen in Paris, ich kann es spüren.«
Der Inquisitor nickte. »Mag sein, dass dieser schreckliche Mord etwas damit zu tun hat. Wir werden die Augen offenhalten und Euch unterrichten, sobald wir etwas Verdächtiges vernehmen.« Der Prévôt nickte und entließ uns, nachdem er Philippe de Touloubre um seinen Segen gebeten hatte, den dieser auch gnädig gewährte.
*
»Meister, glaubt Ihr wahrhaftig, dass Heinrich von Lübecks Ermordung etwas mit den Gerüchten vom Feuerregen und den anderen wirren Geschichten zu tun hat?«, fragte ich, als wir das Grand Châtelet wieder verlassen hatten und ich freier zu atmen wagte. »GOTTES Wege sind vollkommen, so heißt es im Psalter. Doch wir Menschen sind nicht dazu geschaffen, sie in all ihren Windungen und Verästelungen zu erkennen. Wir schreiten sie nur ab, blind für das, was mehr als ein paar Handbreit vor uns liegt. Was wissen wir also schon?«, antwortete Philippe de Touloubre.
»Ich weiß, dass seine Durchlaucht, der Prévôt royal Ambroise de Lore ein prunksüchtiger Mann ist«, fuhr der Inquisitor dann fort. »Ich weiß, dass er die Schönfrauen liebt und seine Sergeanten deshalb nicht gerade mit der Peitsche antreiben wird, eine dieser sündigen Frauen streng zu bewachen. Ich weiß, dass er wenig weiß und wenig wissen will. Doch in einem gebe ich dem Prévôt, der seine Sorgen hinter seinem rauen Auftreten nur unzulänglich verbergen kann, Recht: Irgendetwas geht vor in dieser Stadt.«
Philippe de Touloubre führte mich ein Stück die Straße zurück, Richtung Place de Greve. »Wir werden nun dem Vorsteher der Flussschiffergilde einen Besuch abstatten«, erklärte er mir im Gehen. »Sie ist die mächtigste Gilde der Stadt. Wenn jemand weiß, wer jener Kaufmann aus deutschen Landen sein mag, den Heinrich von Lübeck kurz vor seinem Tod getroffen hat, dann der Gildenmeister.« Als wir auf der Place de Greve standen, mussten wir uns den Weg durch eine Menschenmenge bahnen. Ich begriff zunächst nicht, was dies zu bedeuten hatte - ja, ich gestehe, dass ich ängstlich war, vielleicht einen jener Aufrührer mit ihren gefährlichen Reden zu erleben, von denen der Inquisitor und der Prévôt royal gesprochen hatten. Doch dann erblickte ich einen Galgen, der aus ein paar rohen Balken schief und schlecht zusammengezimmert worden war. Zwei Henkersknechte zerrten einen jungen, abgerissenen Burschen zur Richtstatt. Die Leute pfiffen und riefen ihm Schmähworte und Verwünschungen zu; zwei oder drei schleuderten sogar Kohlstrünke und Kot, ein Stein traf den Jungen am Kopf. Er taumelte benommen, Blut floss über seine Stirn und die Menge grölte.
Wir erfuhren von Schaulustigen, dass der Verurteilte am Tage zuvor auf einem der an den Kais vertäuten Seineschiffen aufgespürt worden war, wie er gerade die Wämser der Matrosen in deren Verschlag durchwühlte.
»Zehn Sous hat man in seiner Tasche gefunden!«, rief uns ein älterer Mann erregt zu, und eine Frau, vielleicht seine Gattin, kreischte: »Seit Tagen verschwinden hier Geldstücke, Kupfernägel und andere Sachen. Das war dieser Kerl, nur kann es ihm niemand mehr beweisen.« Dann erst schien sie unseren Mönchshabit zu bemerken. Die alte Vettel bekreuzigte sich, deutete eine Verbeugung an und murmelte: »Doch GOTT in SEINER Gnade hat uns Gerechtigkeit widerfahren lassen.«
» Vae autem vobis scribae et Pharisaei hypocritae«, antwortete Philippe de Touloubre würdevoll. Die alte Frau, die kein Latein verstand und deshalb nicht wusste, dass der Spruch auf sie gemünzt war, schlug ein zweites Mal das Kreuz über ihrer Brust.
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