Der Steuermann wurde sofort wieder nervös. »Nicht ganz«, gab er zurück. »Herr Helmstede hat die meisten Männer der Besatzung zu sich ins Haus genommen, wo sie in den Zimmern der Diener schlafen - auf dass niemand während der Liegezeit den Reizen von Paris erliege und sich davonmache. Nur ein paar Mann und ich sind zurückgeblieben, um die ›Kreuz der Trave‹ zu bewachen. Ich habe die Männer vor einer Stunde fortgeschickt, um Brot und Wein zu holen.«
»Dann bist du ja gut versorgt«, murmelte Philippe de Touloubre und zog eine Augenbraue spöttisch in die Höhe. Ich folgte seinem Blick, der über die Schulter des Steuermanns ging - zum Achterschiff, wo im Kastell eine Luke aufging. Für einen Augenblick gewahrte ich dort die blonden Haare eines liederlich gekleideten Frauenzimmers. Als die Dirne uns erblickte, schlug sie erschrocken eine Hand vor den Mund und verschwand geräuschlos wieder im Bauch der »Kreuz der Trave«. Selbst ein Mönch wie ich konnte sich denken, warum Gernot seine Männer fortgeschickt hatte. Ich zog es vor, dem Steuermann, der das kleine Schauspiel hinter seinem Rücken nicht bemerkt hatte, die Bemerkung Meister Philippes nicht zu übersetzen. Auch der Inquisitor tat Gernot gegenüber so, als hätte er niemanden gesehen, und blickte sich mit freundlichem Lächeln um. »Die Farben sind abgeblättert, der Teer rissig, die Segel scheinen ein wenig zerschlissen zu sein. Sagt, Steuermann Gernot, hatte die ›Kreuz der Trave‹ eine lange Reise hinter sich, als sie in Paris anlangte?« Gernot sah unsicher drein. »Nun, Herr, wir mussten ganz Dänemark umsegeln. Im Skagerrak sind Wind und Strömung tückisch, wir mussten vier Tage gegenan kreuzen. Auch die Nordsee ist gefährlich, manchmal mussten wir lange beidrehen. Es war ja noch Winter, als wir gen Frankreich fuhren.«
»Doch könnt ihr kaum mehr als ein paar Wochen unterwegs gewesen sein«, hakte Meister Philippe nach.
»Es waren vier, um genau zu sein«, gab der Steuermann zur Antwort. »Die ›Kreuz der Trave‹ scheint mir aber auszusehen, als sei sie Monate auf See gewesen«, stellte der Inquisitor mit gefährlicher Freundlichkeit fest.
»Das mag sein«, murmelte Gernot. Dem Steuermann standen feine Schweißtropfen auf der Stirn, die in der Sonne glänzten wie ein leichtes Perlendiadem. »Ich kann es nicht sagen, denn dies ist meine erste Fahrt auf der ›Kreuz der Trave‹. Zuvor diente ich Herrn Helmstede auf einem anderen Schiff.«
Er blickte sich nervös um, als fürchtete er, ein Dämon könnte jeden Augenblick irgendwo aus einem finsteren Winkel der Kogge hervorspringen.
Dann fiel er plötzlich auf die Knie - dies geschah so unvermittelt, dass ich erschrocken zurückwich und einen Augenblick innehielt, bevor ich es wagte, das, was nun aus ihm hervorsprudelte, meinem Meister zu übersetzen. Es war, als sei ein Seil in Gernot, das unter hoher Spannung gestanden hatte, ganz plötzlich zerrissen.
Er küsste den Saum der Kutte des Inquisitors. »Betet für mich«, flehte er, »denn dieses Schiff ist verflucht.«
Meister Philippe blieb unbewegt und sah streng auf ihn hinab. »Sag dies nicht leichtfertig, mein Sohn, manchmal kommt das Böse erst zu uns, wenn wir es rufen.«
Gernot blieb auf den Knien und blickte sich wieder gehetzt um. »Die anderen Seeleute sind einfache Matrosen oder liederliches Pack, angeheuert von meinem Herrn in Lübeck und anderen Häfen der Ostsee. Sie verstehen sich nicht auf die Kunst, ein Schiff zu steuern, und sie kümmert es auch nicht, solange sie nur ihr Geld bekommen. Nur mein Herr und ich verstehen uns auf die Navigation, doch ihm wagte ich nicht, zu gestehen, was auf meiner Seele lastet.« Gernot sprach nun leiser, sodass wir uns zu ihm hinabbeugen mussten, um ihn zu verstehen.
»Im letzten Herbst schleppte sich die ›Kreuz der Trave‹ in den Hafen von Lübeck«, flüsterte der Steuermann. »Lange war sie auf See geblieben, so lange, dass wir sie schon verloren gegeben haben. Im Dom war sogar schon eine Messe für die Seelen der Seeleute gelesen worden und ihre Frauen trugen Witwentracht.
Nicht zu Unrecht. Denn eines Tages schlich die Kogge in den Hafen, nur ein zerfetztes Segel hatte sie gesetzt. Kräftige Männer mussten ihr in Kähnen entgegenrudern und sie bis an den Kai schleppen. Als sie an Bord kamen, da fanden sie nur noch einen Mann vor: den Kapitän - und der lag im Sterben. Es war Otto Helmstede, der ältere Bruder meines Herrn. Sonst war keine Seele an Bord zu finden, nicht einmal die Bordkatze.
Herr Helmstede weilte in jenen Tagen in Hamburg, sodass er seines Bruders nicht mehr ansichtig wurde, so sehr er sich auch eilte, denn dieser starb noch an demselben Tag, da die ›Kreuz der Trave‹ Lübeck erreichte. Nur die Gattin meines Reeders war zugegen. Sie hat die Männer befohlen, die an jenem Tag an Bord der Kogge gingen, und alles auf das Beste und Wohlgefälligste unternommen.«
»Was hat der sterbende Kapitän erzählt?«, unterbrach Meister Philippe den Bericht des Steuermannes.
Gernot kratzte sich am Kopf. »Das weiß niemand«, antwortete er. »Oder besser gesagt: Das weiß nur einer. Ein Mönch eilte mit an Bord, ein alter Freund des Kapitäns seit Kindesbeinen und dessen Beichtvater. Er war bei ihm, als der Kapitän im Achterkastell seines Schiffes verschied. Gut möglich, dass der Mönch etwas von den schrecklichen Dingen erfahren hat, die an Bord vorgefallen sein müssen. Der Kapitän wollte sicherlich seine Seele erleichtern, bevor er vor SEINEN Richterstuhl trat.
Doch der Mönch hat niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen verraten, selbst Herrn Helmstede nicht.«
»Wie hieß der Mönch?«, fragte Philippe de Touloubre. »Das weiß ich nicht«, gab Gernot zur Antwort. »Er trug einen Habit in Schwarz und Weiß wie Ihr, und er war dünn und kahl. Ich sah ihn manchmal, wenn ich im Hause der Helmstedes zu tun hatte, doch sprach ich nie mit ihm.«
»Trug er ein Sehglas vor den Augen?«, wollte Meister Philippe wissen. Gernot sah den Inquisitor überrascht, dann erschrocken an. »Ja, in der Tat, manchmal setzte er sich Gläser auf den Nasenrücken und wir Seeleute lachten darüber. Woher wisst Ihr das?«
»Der HERR hat manche Menschen auf diese Welt befohlen, um Fragen zu stellen, und andere, um diese zu beantworten. Wir wollen doch nicht gegen SEINE Ordnung verstoßen«, gab Meister Philippe zur Antwort. »Was geschah nach dem Tod des Kapitäns?« Gernot schluckte. »Niemand wollte an Bord der ›Kreuz der Trave‹ gehen, sie galt fortan als verfluchtes Schiff. Auch mein Herr betrat sie nicht. Sie lag an einem verlassenen Hafenkai und ich glaube, dass selbst die Ratten, die doch sonst jeden Segler heimsuchen, sie mieden. Dann, wohl einige Wochen später, entschied Herr Helmstede plötzlich, mit der ›Kreuz der Trave‹ nach Paris zu segeln. Das Volk von Lübeck verwunderte sich. Denn erstens war noch nie eine Kogge der Hansestadt bis dorthin gefahren. Zweitens war es zu jener Zeit Winter - die Zeit, in der Schiffe und Seeleute von Gesetzes wegen im Hafen bleiben sollen. Und drittens fragte sich jeder, warum er ausgerechnet mit diesem verfluchten Segler fahren wollte. Doch der Mönch, der alte Beichtvater des Kapitäns, hielt an Bord der ›Kreuz der Trave‹ eine Messe ab, um das Böse aus ihr zu vertreiben. Da Herr Helmstede doppelte Heuer zahlte und während des Winters sowieso keine andere Anstellung zu finden war, gab es dann auch genügend Männer, die auf der Kogge anheuerten.«
»Und einen Steuermann«, ergänzte Meister Philippe. Gernot blickte zu Boden. »Ja«, murmelte er, »denn ich hatte Schulden bei einem jüdischen Geldverleiher. So ging ich denn an Bord. Die Fahrt gen Paris war, wenn auch langwierig, so doch nicht gefährlich. Aber trotzdem«, er zögerte lange, »trotzdem glaube ich, dass ich nachts Stimmen höre: Die verlorenen Seelen der Seeleute rufen mich. Dieses Schiff ist verflucht. Ich wünschte, oh Vater, dass ich von Bord gelangen könnte, doch ich wage nicht zu gehen.«
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