»Nein.«
»Dennoch ist das Ergebnis dasselbe.«
»Ja. Wenn man haargenau diesem Weg folgt, gewinnt man mühelos alchimistisches Gold, das, wie du genau weißt, etwas ganz anderes ist als normales Gold.«
»Wenn es wirklich existiert«, flüsterte Mondino, »wäre es unendlich viel kostbarer als normales Gold: ein Elixier, mit dem man jede Wunde heilen kann, jede Krankheit und das Leben sogar um Jahrhunderte verlängern kann … Das ist unmöglich. Es muss sich um eine Legende handeln.«
Adia schüttelte nur stumm den Kopf. Sie war wie immer wunderschön, doch in diesem Augenblick dachte Mondino nur an das offenbarte Geheimnis, den Hauptgrund, weswegen er sich auf die Jagd nach dem Mörder gemacht und sein Leben und seine berufliche Laufbahn aufs Spiel gesetzt hatte. In Fiammas Tagebuch war nicht die Rede davon gewesen, auf welche Weise sie das Pulver erzeugt hatte, um Adern und Blut in Eisen zu verwandeln, und mittlerweile hatte Mondino seinen Traum aufgegeben, eine vollständige Karte des menschlichen Gefäßsystems zu erstellen. Niemand hatte Remigio Sensis Leiche berühren wollen, aus Furcht vor irgendeinem Unheil, und so hatte man den Bankier an dem Ort gelassen, wo er gestorben war. Die städtische Justiz hatte bestimmt, dass der Zugang zu dem unterirdischen Gewölbe verschlossen werden sollte, und nachdem man alle Bettler fortgejagt hatte, die es bevölkerten, hatte man das Haus, in dem sich der Zugang dazu verbarg, vollends zum Einsturz gebracht. Damit war der Spalt zur Gruft mit Tonnen von Steinen und Ziegeln versperrt. Mondino, der zunächst einmal froh darüber war, dass er mit dem Leben davongekommen war und wieder gemeinsam mit Liuzzo die Medizinschule führte, hatte den Bogen nicht überspannen wollen und deshalb nicht gebeten, Remigios Leiche untersuchen zu dürfen. Er hatte sich vielmehr gezwungen, nur an seine Arbeit und seine familiären Pflichten zu denken, vor allem jetzt, da sein Vater verstorben war.
Und nun reizte Adia plötzlich wieder diesen Teil seiner Seele, der doch eigentlich besser ruhen sollte.
»Hast du es ausprobiert?«, fragte Mondino mit einem Zittern in der Stimme.
Er war beinahe glücklich, als sie das verneinte.
»Du kannst also nicht wissen, ob es tatsächlich funktioniert?«
»Nein. Und ich will es auch gar nicht wissen. An dem Geheimnis klebt zu viel Blut.«
»Ich möchte es trotzdem wissen.«
Adia starrte ihn entsetzt an. »Du weißt nicht, was du da sagst.«
»Da irrst du dich. Ich verstehe deine Worte und dass es auf die Art und Weise ankommt, auf die man etwas tut, aber denk doch daran, welch unglaubliches Geschenk dieses Elixier für die Menschheit bedeutet.«
Während er sprach, hatte Adia den Kopf geschüttelt. »Überleg doch bitte«, sagte sie dann traurig. »Fiammas Vater hat den Mann getötet, der ihm das Geheimnis enthüllt hat, diesen Türken, den man vor den Toren Gharnatas ohne Herz gefunden hat. Dann ist er selbst umgebracht und seine Tochter im Angesicht und in der Seele gezeichnet worden. All das nur wegen dieses unseligen Geheimnisses. Die Tempelritter, die es in ihren Besitz bringen wollten, haben unerdenkliche Schändlichkeiten begangen, um dann ein schreckliches Ende zu finden. Fiamma selbst hat gemordet und sich nach einem qualvollen Leben umgebracht. Möchtest du wirklich enden wie sie?«
»Nein, aber …«
»Aber was? Verstehst du nicht, was du in Gang setzen würdest, wenn du dich dem alchimistischen Geheimnis verschriebest? Auch du würdest getötet. Gierige und mächtige Männer würden einander zerfleischen, um in den Besitz der Formel zu kommen, damit kein anderer darüber verfügen kann. Denn die Gierigen wollen die Macht in den Händen weniger wissen. Und wenn sich die Nachricht verbreitete, dass man das Elixier gefunden hat, würde es noch mehr Tote geben. Stell dir vor, es könnte sogar ein Krieg ausbrechen. Ein Krieg, an dem sich zweifellos auch die Kirche beteiligen würde. Willst du das wirklich?«
Fiamma sah ihn so durchdringend an, dass Mondino sich beinahe vor ihr fürchtete. Er ahnte, dass von seiner Antwort abhing, welchen Wert sie ihm als Mensch zumaß, und er wünschte sich nichts mehr, als sie zufrieden zu stellen. Sein wissenschaftlicher Verstand ließ es jedoch nicht zu, sich so kurz vor dem Ziel geschlagen zu geben. Adias Beispiel mit dem Berg war eindringlich, aber wenig glaubhaft. Wenn ein Arzt einen Patienten operierte, zählte nur, wie die Operation durchgeführt wurde. Hatte man sie gut durchgeführt, wurde der Patient auch wieder gesund, selbst wenn der Arzt ein Mörder oder ein verabscheuungswürdiger Mensch war.
»Was möchtest du also tun?«, sagte er schließlich und zog es vor, auf ihre Frage mit einer Gegenfrage zu antworten.
»Ich möchte diese Karten vernichten«, antwortete die Alchimistin. »Aber da sie nicht mir gehören, brauche ich deine Zustimmung dazu.«
Mondino schwieg lange. Er war sich sehr wohl bewusst, welche Folgen seine Worte haben würden, aber er musste es sagen.
»Ich möchte das alchimistische Gold sehen, zumindest einmal«, sagte er schließlich leise. »Wenn du mir nicht helfen willst, sag mir wenigstens, wie es geht. Dann werde ich es allein versuchen.«
Adia sah ihn rätselhaft an. »Nur du kannst über dein Schicksal entscheiden«, sagte sie und zeigte auf Feder und Tintenfass auf dem Tisch. »Schreib.«
Mondino bemerkte den feindseligen Ton in ihrer Stimme; trotzdem nahm er die Gänsefeder zur Hand, tauchte sie in die Tinte und begann, auf der Rückseite einer der beiden Karten alle Schritte zu notieren, die ihm Adia diktierte. Als der Platz aufgebraucht war, beschrieb er die Rückseite der zweiten Karte bis zur Hälfte.
»Ist das alles?«, fragte er schließlich.
»Es fehlt noch etwas. Das Wichtigste.«
»Was?«
Adia wandte sich dem Glutbecken zu, in dem die Kohlen unter einem feinen Ascheschleier rötlich glommen. Sie seufzte, und als sie sich wieder zu ihm umdrehte, hielt sie einen kleinen Dolch mit einem mit Intarsien versehenen Holzgriff in der Hand, den sie aus ihrem Gewand gezogen haben musste. Mondino starrte sie ungläubig an, zu überrascht, um irgendwie reagieren zu können. Adia kam mit dem Messer in der Hand auf ihn zu, drehte es um und hielt ihm den Griff hin. Tränen schimmerten in ihren Augen, aber ihr Blick wirkte entschlossen.
»Beweis es mir.«
»Was?«
»Dass du bereit bist, es allein zu tun.«
Die Überraschung ließ Mondino die Lippen zu einem nervösen Lächeln verziehen. »Bitte, leg das Messer weg.«
»Wenn du das Elixier auf dem Weg gewinnen willst, den ich dir eben diktiert habe«, sagte Adia sehr ernst, »brauchst du ein noch schlagendes menschliches Herz. Nimm meines.«
Mondino wusste nicht, was er denken sollte. Er redete sich ein, dass sie es nicht ernst meinte, aber ohne Erfolg. Sie starrte ihn weiter an, die Klinge fest in der Hand.
»Adia, ich könnte dir nie etwas antun …«
»Aber jemand anderem schon?«, bedrängte sie ihn angriffslustig. »Wenn jetzt eine fremde Frau hier vor dir stünde, würdest du sie töten, nur um deinen Traum zu erfüllen?«
»Du willst sagen, um das Elixier zu gewinnen, muss man einen Mord begehen?«
»Um es auf ›diese‹ Weise zu gewinnen, ja«, erwiderte Adia und starrte ihn weiterhin an. »Das sage ich dir doch die ganze Zeit, aber du willst nicht zuhören.«
»Das hatte ich nicht begriffen«, sagte Mondino leise.
»Lügner.« Adias Blick war unbarmherzig. »Du hattest es sehr gut verstanden, aber du wolltest nicht darüber nachdenken. Auf diese Weise kann man die schlimmsten Schändlichkeiten begehen: indem man vermeidet, darüber nachzudenken. Und nun triff deine Entscheidung.«
Mondino ließ den Kopf sinken. Jede weitere Erwiderung war sinnlos. Jetzt konnte er nur noch entschlossen handeln, um Adia und vor allem sich selbst zu beweisen, was für ein Mensch er war. Wie viel er im Namen der Wissenschaft bereit war aufs Spiel zu setzen.
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