Es gab nur einen ehrenhaften Ausweg aus der schwierigen Situation: Er musste die Unruhen mit fester Hand niederschlagen und die beiden Angeklagten wieder in seine Gewalt bringen. Er hoffte nur, dass es ihnen in der Zwischenzeit gelungen war, Remigio Sensis Tochter gefangen zu nehmen. In diesem Fall würde alles ein gutes Ende finden, und die Ältesten würden seinen Entschluss, die Gefangenen gehen zu lassen, nachträglich billigen. Doch wenn beide durch die Meute draußen umkamen, würde er sich auch noch für ihren Tod verantworten müssen.
»Ich komme mit Euch«, erklärte er dem Capitano del Popolo.
»Wir können nicht beide den Palazzo verlassen. Einer von uns muss hier bleiben, um Neuigkeiten entgegenzunehmen und sämtliche Handlungen aufeinander abzustimmen«, gab dieser zu bedenken.
Das stimmte. Den Palazzo ohne einen Anführer zurückzulassen, an den man sich wenden und der die nötigen Befehle geben konnte, hieß dem Aufstand Tür und Tor zu öffnen. Enrico nickte widerwillig. Leider gab es keine Garantie, dass sich die Angelegenheit schnell lösen ließ, und niemand wusste genau, wo man nach Gerardo da Castelbretone und Mondino de’ Liuzzi suchen sollte. Nach den Ereignissen der letzten Tage war der Podestà bereit, an die seltsamsten Dinge zu glauben; dennoch konnte es sein, dass das unterirdische Gewölbe, von dem der junge Mann gesprochen hatte, nur eine Ausgeburt seines verwirrten Geistes war.
»Ja, gut. Aber Ihr müsst mir alle halbe Stunde einen Boten schicken«, erklärte er dem Capitano.
Das sagte ihm Pantaleone zu und verließ dann eilig den Raum. Der Podestà stellte sich auf ein längeres Warten ein.
In einer oder höchstens zwei Stunden würde sein Schicksal entschieden sein.
Als Gerardo unten im Gang des unterirdischen Gewölbes stand, wandte er sich nach rechts, wo der Weg nach Aussagen des armen Bonaga unter den sieben Kirchen der Basilika Santo Stefano in Santo Sepolcro endete. Fiamma konnte nicht wissen, dass Gerardo das unterirdische Gewölbe bekannt war. Deshalb hatte sie auch angenommen, dass sie Andeutungen über den Ort ihres Freitodes machen könnte, ohne entdeckt zu werden. Geschützt von dem, der Bologna beschützt , stand in dem Brief. Und in der Grabeskirche wurden die Überreste des heiligen Petronius aufbewahrt, dem wichtigsten Schutzheiligen der Stadt.
Andererseits hieß, den Ort zu kennen, noch lange nicht, dass er sie auch retten konnte. Gerardo war unschlüssig. Einerseits musste Fiamma vor Gericht befragt werden, damit sein Orden und er von allen Anklagen freigesprochen wurden. Dennoch konnte er den Gedanken nicht ertragen, dass sie eventuell gefoltert würde, selbst wenn sie eine Mörderin war.
Gerardo hatte die Folter am eigenen Leib erfahren. Dieses Gefühl ohnmächtiger Angst, das er selbst durchlebt hatte, als er in den Händen des Henkers gewesen war, war furchtbarer als die Erinnerung an den körperlichen Schmerz.
Selbst in ihrem mörderischen Wahn war Fiamma nichts als ein Opfer.
Er ging auf das Licht zu, das er am Ende des Ganges sah, und kurz darauf betrat er auf Zehenspitzen einen kleinen Saal, der mit von der Feuchtigkeit beinahe vernichteten Fresken ausgeschmückt war. Fiamma, ganz in Schwarz gekleidet, stand mit dem Rücken zu ihm vor einer rechteckigen Platte auf der anderen Seite des Raumes.
Im Licht der beiden hohen Kerzen, die auf Steinblöcken aufgestellt waren, erkannte Gerardo Remigio Sensi, der auf dieser Platte in einem weißen Leinenhemd wie auf einem Opferaltar lag. In ihrer Umgebung konnte man im Halbschatten die Überreste von drei oder vier menschlichen Körpern in unterschiedlichen Stadien der Verwesung erkennen. Allen waren die Brustbeine aufgesägt und die Rippen aufgebogen worden. Das mussten die Bettler sein, von denen Bonaga gesprochen hatte. Fiamma hatte sie benutzt, um an ihnen zu üben.
»Fiamma«, sagte Gerardo so leise, als befände er sich in einer Kirche.
Sie drehte sich langsam um und starrte ihn überrascht an. Ihr Gewand aus schwarzem, golddurchwirktem Brokat fiel ihr bis auf die Füße und wurde an der Schulter von einer goldenen Brosche zusammengehalten. Auch ihr Mieder und die Schuhe waren aus schwarzem Stoff. Ein dunkler Schleier bedeckte ihre blonden Haare, die ihr offen auf die Schulter fielen. Aus dem ganzen Schwarz hob sich ihr blasses Gesicht wie ein heller Fleck ab.
»Gerardo. Wie hast du mich gefunden?«, fragte sie ebenso leise.
»Ein gelähmter Junge hat mir das unterirdische Gewölbe gezeigt. Als ich deinen Brief las, wusste ich, dass du diesen Ort meintest.«
Fiamma nickte. »Bonaga. Er hat ihn auch mir vor anderthalb Jahren gezeigt. Als ich ihn zum ersten Mal sah, wusste ich: Jetzt war der Moment gekommen.«
In ihrem Tagebuch hatte Fiamma Bonaga und das unterirdische Gewölbe nicht erwähnt, aber den Tag, an dem sie begonnen hatte, ihren Racheplan umzusetzen. Sie hatte Zugang zu allen Dokumenten ihres Adoptivvaters gehabt und wusste deshalb seit langem, wo sie ihre Peiniger erreichen konnte. Sie hatte ihnen den Brief geschrieben, der sie in die Falle gelockt hatte, und um sie zu überzeugen, hatte sie jedem Schreiben einen in Eisen verwandelten Finger von den Bettlerleichen, an denen sie experimentiert hatte, geschickt. Gleichzeitig hatte sie diejenigen Templer, die der Verhaftung entkommen und in Remigios Wechselstube vorstellig geworden waren, mit anonymen Schreiben bei der Inquisition angezeigt.
»Sag doch bitte nicht so etwas«, sagte Gerardo. »Es ist immer noch Zeit, um …«
»Wofür? Um bei lebendigem Leib als Hexe und Mörderin verbrannt zu werden? Ich habe Jahre gebraucht, um alles vorzubereiten, und es wird so enden, wie ich es beschlossen habe. Komm nicht näher!«, rief Fiamma.
Gerardo hatte einen Schritt auf sie zugemacht, blieb jedoch unverzüglich stehen. Fiamma umklammerte einen merkwürdigen Pfriem mit dreieckiger Klinge. Dieser lag auf der Steinplatte neben einem Glas, das im Licht der Kerzen bunt schimmerte.
»Der Griff dieses Stiletts ist mit dem Pulver gefüllt, das Blut in Eisen verwandelt«, sagte Fiamma. »Und die Klinge ist hohl. Ein Kratzer genügt, und du wirst eines schrecklichen Todes sterben. Ich bitte dich, zwing mich nicht dazu!«
Gerardo blieb regungslos stehen, doch ein unsäglicher innerer Schmerz quälte ihn. Er wusste, was Fiamma vorhatte, und wollte sie aufhalten, doch er hatte keine Idee wie. Sie ging um die Steinplatte herum, so dass sie ihm nicht mehr den Rücken zuwandte, und mit einer plötzlichen Handbewegung bohrte sie das Stilett in rascher Folge zweimal in Remigios Füße. Der Bankier zuckte kaum auf und ließ nicht einmal ein Stöhnen vernehmen.
»Sein Körper ist gelähmt, er kann jedoch den Schmerz spüren. Jeden einzelnen, und jeden einzelnen hat er verdient«, meinte Fiamma.
Gerardo hatte in ihrem Tagebuch auch die Seiten über Remigio gelesen, der Fiamma als Tochter adoptiert hatte, sie aber seit ihrem dreizehnten Lebensjahr wie eine Ehefrau missbrauchte. Er hatte sich darüber empört und den Wunsch verspürt, dem Bankier eigenhändig etwas anzutun. Dennoch fühlte er jetzt, als er die unmenschliche Strafe beobachtete, die die junge Frau für ihren Peiniger vorgesehen hatte, gegen seinen Willen Mitleid mit ihm.
Man konnte zusehen, wie Remigio Sensis Adern aufquollen und sich verhärteten. An mehreren Stellen brachen sie durch die Haut wie knotige Wurzeln. Ihre Spur zog langsam seine Beine hinauf. Die Augen, das Einzige, was der Bankier noch bewegen konnte, zuckten fieberhaft hin und her, aber vielleicht nahmen sie auch gar nichts mehr wahr und verloren sich in diesem Meer aus Schmerz und Angst.
»Pilatus, Longinus und Kaiphas sind schnell gestorben«, sagte Fiamma. »Er aber hat mich sechs qualvoll lange Jahre missbraucht. Deshalb verdient er einen langsameren Tod.«
Als Gerardo hörte, dass sie die ermordeten Tempelritter mit diesen biblischen sprechenen Namen belegte, wurde ihm das ganze Ausmaß ihres Wahnsinns bewusst: Fiamma war in diesem Moment nicht bei ihm, ja, nicht einmal bei sich selbst: Ihre Seele war in dieser Grotte in Spanien geblieben, wo sie einen Kampf mit der Verzweiflung über den gleichzeitigen Verlust von Familie, Haus und Schönheit ausgefochten und verloren hatte. Sie verglich sich mit niemand Geringerem als Jesus Christus, dem reinen Lamm Gottes, das für die Sünden der Menschen geopfert worden war. Aber im Unterschied zu Christus verzieh die junge Frau ihren Peinigern nicht. Sie sann geduldig auf ihre Rache, ließ sich von Remigio anstellen und dann adoptieren, um über seine Beziehungen zu den Tempelrittern die Mörder ihres Vaters ausfindig zu machen. Zur Umsetzung ihres Plans ertrug sie sogar die Vergewaltigungen. All die Qualen hatten zwar ihren Körper nicht töten können, wohl aber Fiammas Seele.
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