Kurz darauf verließen die fünf Männer einer nach dem anderen das Gebäude durch den Hintereingang. Die Menge, die sich am vorderen Portal versammelt hatte, bemerkte sie nicht. Aber sie hatten erst ein Dutzend Schritte zwischen den verlassenen Ständen des Mercato di Mezzo zurückgelegt, als sich hinter ihnen ein Schrei erhob: »Der Mörder flieht!«
Sie wandten sich geschlossen um, und zu seinem Entsetzen erkannte Mondino die stämmige Gestalt von Guido Arlotti, der anklagend mit dem Finger auf sie zeigte.
Der äußere Rand der Menge wogte hin und her wie ein Weizenfeld im Wind. Viele drehten sich zu der kleinen Gruppe um, und der Schrei: »Der Mörder flieht!« wurde von Dutzenden Mündern wiederholt. Gerardo sah, wie zahlreiche Menschen sich aus der Menge lösten und zunächst langsam auf sie zukamen, als wüssten sie nicht recht, was zu tun sei, dann wurden sie jedoch immer schneller.
»Los, rennen wir!«, schrie Mondino vor ihm. Gerardo folgte ihm ohne zu zögern, so schnell es ihm sein von der Haft und der Folter geschwächter Körper erlaubte. Die drei Sbirren hingegen, die eine instinktive Furcht trieb, begingen den Fehler, ihre schmalen Schwerter zu ziehen. Darauf erhob sich aus der Menge ein undeutlicher Schrei, und einen Augenblick später hatten sich die wütenden Menschen bereits auf sie gestürzt. Gerardo hörte die Schmerzensrufe, während die Sbirren im wahrsten Sinne des Wortes in Stücke gerissen wurden, und ballte die Fäuste, wandte sich jedoch nicht um. Selbst mit zwei gesunden Armen hätte er ihnen nicht helfen können, geschweige denn jetzt, wo sein linker ausgerenkt war. Mondino rannte in einigem Abstand und mit bis zu den Knöcheln gerafftem Talar vor ihm her. Bevor sie die Brücke über die Aposa erreichten, sahen sie zwei Gruppen von festlich gekleideten Leuten, die feierlich aufeinander zukamen. Gerardo erkannte, dass es sich um einen Hochzeitszug handelte. Die Braut kam von der linken Seite, zu Pferde, neben ihr die Eltern, dahinter ihre Verwandten. Der Bräutigam näherte sich von links; er ging zu Fuß, trug einen Falken auf dem Arm und wurde ebenfalls von Freunden und Verwandten begleitet. Wahrscheinlich sollte das Paar in der Kathedrale San Pietro heiraten und hatte geplant, sich auf dem Weg zum Mercato di Mezzo zu treffen und das letzte Stück Weges gemeinsam zurückzulegen. Bei aller Hast konnte Gerardo nicht umhin, die Schönheit der Braut zu bewundern: Sie war blond, in Weiß und Gold gekleidet und trug einen bestickten Schleier, der im leichten Wind flatterte. Das Zaumzeug ihres Pferdes war mit den gleichen Motiven verziert wie ihr Kleid.
Er sah, wie die Überraschung auf den Gesichtern der Leute in Furcht überging. Der Bräutigam ließ den Falken fliegen, der schnell in den blauen Himmel aufstieg, und zog sein Zierschwert; alle Männer des Zuges taten es ihm gleich. Mondino wich nach rechts aus, und Gerardo folgte ihm. Die Menge stürmte ohne zu zögern gegen die Schwerter, sei es, weil die Menschen auf ihre Überzahl vertrauten, oder aus selbstmörderischer Wut. Die beiden Gruppen prallten unter Schreien und dem Klirren von Metall gegen Metall aufeinander, ein Zeichen dafür, dass auch viele ihrer Verfolger ungeachtet des Verbotes bewaffnet waren. Gerardo hoffte nur, dass die Braut es noch rechtzeitig geschafft hatte, ihr Pferd zu wenden und im Galopp zu fliehen.
Selbst in der Eile ihrer Flucht hatte Mondino nicht vergessen, wohin sie unterwegs waren, und versuchte zweimal, die Richtung nach Santo Stefano einzuschlagen, aber bei beiden Gelegenheiten versperrten ihnen mit Stöcken bewaffnete Nachzügler den Weg, die noch zur Piazza unterwegs waren, weil sie das Spektakel dort nicht versäumen wollten. Schließlich wurden sie nach Süden, zur Kirche des heiligen Dominikus abgedrängt, dem letzten Ort, den Gerardo jetzt sehen wollte. Schon bei der Erinnerung an Uberto da Riminis fanatischen Blick krampfte sich ihm der Magen zusammen.
Auf einmal blieb Mondino stehen und drehte sich keuchend, eine Hand gegen die Seite gepresst, zu ihm um.
»Sind sie immer noch hinter uns her?«, fragte er atemlos.
Gerardo nickte stumm, er brachte kein Wort heraus. Ihre Verfolger waren zwar weniger geworden, da der Hauptteil wohl immer noch in die Auseinandersetzung mit dem Hochzeitszug verwickelt war, aber die Schreie kamen deutlich näher. Dem Lärm nach mussten es mindestens sechs oder sieben sein
- zu viele für zwei unbewaffnete Männer.
Außerdem zogen noch weitere brüllende und mit Knüppeln bewaffnete Gruppen durch die Straßen. Anscheinend hatte die Menge sich aufgeteilt und, anstatt auf der Piazza zu bleiben, hatte der Mob begonnen, seinen Zorn in der Stadt auszutoben. Von Zeit zu Zeit hörte man aus den Seitenstraßen Kampfgeräusche oder dass ein Edelmann beschimpft wurde, der es wagte, sich am Fenster zu zeigen. Hier und da erklang der Schrei: »Brot! Brot!« Alle Tore waren mittlerweile fest verrammelt.
Gerardo und Mondino befanden sich an einer hohen Einfassungsmauer ohne Toröffnungen. Dort konnten sie nicht stehen bleiben. Erschöpft nahmen sie ihren Weg wieder auf, bis sie die Rückseite der Basilika des heiligen Dominikus erreicht hatten. Dort schlüpften sie in eine dunkle Gasse zwischen zwei Häuserreihen und konnten endlich ein wenig zu Atem kommen. Im gleichen Moment sah Gerardo eine seltsame Prozession vom Vorplatz der Kirche her auftauchen. Zwei kräftige Dominikanermönche in weißer Kutte und schwarzen Umhängen liefen Weihrauchfässchen schwenkend voran, gefolgt von einem weiteren Mönch, der ein vergoldetes Kreuz trug, und hinter ihm der Erzbischof höchstpersönlich in vollem Ornat: die Mitra auf dem Haupt, die weiße Dalmatika mit den beiden roten Streifen vorn und hinten, den versilberten Hirtenstab in der Hand. Hinter ihm schritt Uberto da Rimini ohne Kapuze über seinem kahlen Kopf und wie immer mit hochmütigem Blick.
Gerardo fragte sich, wohin sie unterwegs waren und ob sie wussten, welcher Gefahr sie sich aussetzten. Die Männer der Kirche wurden zwar gefürchtet und geachtet, aber sie waren beim Volk verhasst und blieben daher in einem Moment des Aufruhrs wie diesem besser im Schutz ihrer Kirchen und Klöster. Wäre der Inquisitor nicht dabei gewesen, hätte Gerardo sogar das Risiko auf sich genommen, sie zu warnen. Doch Uberto da Rimini wusste nichts über die jüngste Entwicklung der Ereignisse und hätte unüberlegt reagieren können, wenn er ihn in Freiheit sah. Auch Mondino beobachtete verwundert die kleine Mönchsschar, die direkt in ihr Verderben marschierte.
Ohne Vorwarnung tauchte aus einer Seitenstraße ein Pulk schreiender Leute auf, die mit ihren Stöcken an die Türen der Häuser schlugen. Als sie die Kirchenmänner und den Erzbischof in vollem Ornat bemerkten, zögerten sie eingeschüchtert. Doch es genügte, dass einer von ihnen einen Stein aufhob und ihn mit einem Aufschrei auf die Prozession schleuderte, und schon stürzten sich die anderen mit erhobenen Stöcken auf die Mönche.
Es entbrannte ein wütender Kampf. Die beiden Mönche schwangen ihre Weihrauchfässchen wie eisenbeschlagene Knüppel, dass die Funken nur so flogen. Einem gelang es, seinen Angreifer am Kopf zu treffen und ihn so in die Flucht zu schlagen. Einem anderen rutschte ein Stück glühende Kohle in den Kragen, woraufhin der Mann brüllend seinen Stock losließ und wild hüpfte, um sich von der Glut zu befreien. Doch diese Geschehnisse trugen nur dazu bei, die anderen anzustacheln, die sich geschlossen auf die Mönche warfen. Der Erzbischof und der Inquisitor standen reglos daneben, als ginge das Ganze sie nichts an. Doch als einer der Mönche, von einem Stockhieb getroffen, zu Boden ging, stürzten sich drei Männer, die inzwischen so von Wut erfüllt waren, dass sie sich auch nicht mehr vom heiligen Ornat einschüchtern ließen, auf den Erzbischof.
In den Häusern erhob sich hinter den geschlossenen Fenstern ein Chor entsetzter Frauenschreie. Gerardo, der bis jetzt alles nur tatenlos beobachtet hatte, hielt es nicht mehr aus und stürmte los. Mondinos Rufe verhallten ungehört - der junge Mann war nicht mehr zu bremsen. Uberto da Rimini überließ Gerardo sich selbst, aber dass die Menge einen Erzbischof der römischen Kirche in Stücke riss, besonders einen, der den Ruf eines gerechten Mannes hatte wie Rinaldo da Concorezzo, wollte er nicht dulden. Während Gerardo den Schutz der Gasse verließ und sich in die Menge stürzte, brannte sich ein Bild in seinem Kopf ein, nämlich das geradezu verzückte Gesicht des Inquisitors, mit der dieser die Szene beobachtete. Er sah aus, als werde er gerade Zeuge eines Wunders und nicht einer schrecklichen Gewalttat. Gerardo nahm wahr, wie zwei Männer ihre Stöcke hoben, um auf den Erzbischof einzuschlagen, ohne dass Uberto eine Hand zu seiner Verteidigung rührte. Ganz im Gegenteil: Der Inquisitor betrachtete Rinaldo mit ekstatischer Freude, und als er sich dem Bischof zuwandte, meinte Gerardo zu sehen, dass er ihn seinen Angreifern sogar entgegenstieß. Rinaldo da Concorezzo knickten unter den Schlägen die Beine weg, er verlor seine Mitra und fiel auf die Knie.
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