Mondino drückte ein Stück Stoff auf die Schulterwunde, um die Blutung zu stoppen, und achtete nicht auf die Proteste und Drohungen von Guido Arlotti, der an Händen und Füßen gefesselt am Boden saß.
»Mein Freund wird sterben«, sagte Guido plötzlich und deutete auf den Mann ohne Ohren, der eine große Wunde am Bauch hatte. »Und auch Ihr lebt nicht mehr lange, wenn Ihr mich nicht Hilfe holen lasst.« Als seine Drohungen erschöpft waren, versuchte Arlotti es mit einem Appell an Mondinos Mitgefühl.
»Lieber verblute ich, als dass ich Euch helfe«, sagte der Arzt. »Daher spart Euch Eure Worte. Seht« - er wies mit dem Kinn in eine Richtung -, »da kommen die Männer des Podestà.«
Am anderen Ende der Gasse waren tatsächlich zwei Häscher in Kriegsuniform erschienen, gefolgt von Pantaleone Buzacarini in Soldatentunika und Lederwams. Hinter ihnen marschierten noch weitere bewaffnete Soldaten. Mondino unterrichtete den Capitano über das, was vorgefallen war, und Pantaleone übernahm sofort das Kommando.
Er warf einen flüchtigen Blick auf die Bauchwunde des Mannes mit den abgeschnittenen Ohren und setzte dessen Leiden mit einem Schwertstreich ein Ende. »Er wäre ohnehin unterwegs gestorben«, erklärte er schulterzuckend. Dann baute er sich vor Guido Arlotti auf.
»Du hast gehört, was Mondino gesagt hat«, meinte er ganz gelassen. »Er beschuldigt dich, du hättest die Gerüchte in die Welt gesetzt, die zu diesem Aufstand geführt haben, und ich sehe keinen Grund, ihm nicht zu glauben.« Guido protestierte, doch der Capitano del Popolo unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Mich interessieren deine Ausreden nicht«, sagte er barsch. »Wenn du jetzt und hier gestehst, wie, aus welchem Grund und für wen du das getan hast, erreichst du das Gefängnis unversehrt. Andernfalls werde ich dir beide Hände abschlagen, ehe ich dich meinen Männern überlasse.«
Ohne Guidos Antwort abzuwarten, gab er einem Häscher ein Zeichen und hob das Schwert, während der Mann diesen an der Schulter packte und der Länge nach zu Boden warf.
»Wartet!«, schrie Arlotti. Es war das erste Mal, dass Mondino Angst in seinen Augen entdeckte. »Ich stehe im Dienst des Inquisitors Uberto da Rimini. Wagt es nicht, mich anzurühren, oder ihr werdet es teuer bezahlen!«
Ehe der Capitano del Popolo etwas erwidern konnte, drehten sich die Soldaten um, und auf einmal herrschte in der Gasse bedrückendes Schweigen. Mondino folgte ihrem Blick und sah Gerardo aus dem eingestürzten Haus hervorkommen. Sein Gesicht wirkte genauso verwirrt wie in der Nacht, als er an sein Arbeitszimmer geklopft hatte. Und wie damals hatte er eine Leiche im Arm.
Gerardo schritt durch die schweigende Menge und trug Fiamma Sensi wie eine Braut. Der Kopf mit den blonden Locken, welche die Narbe verdeckten, ruhte auf seiner Brust, und das schwarze Gewand fiel in weichen Falten zu Boden. In dieser düsteren Umgebung stach ihre Schönheit nur noch deutlicher hervor.
»Ist das die gesuchte Mörderin?«, fragte ein Soldat ungläubig.
»Das ist sie«, bestätigte Gerardo erschöpft. »In dem unterirdischen Gewölbe hinter mir findet Ihr ihr letztes Opfer, Remigio Sensi, den Adoptivvater.«
Der Capitano del Popolo ließ das Schwert sinken, löste sich aus der Erstarrung, die alle Anwesenden befallen zu haben schien, und begann, laute Befehle zu rufen. Er beauftragte drei Männer damit, Guido Arlotti zum Palazzo des Podestà zu bringen, doch erst, nachdem man ihn geknebelt hatte, damit er nicht um Hilfe schrie und noch einmal versuchte, das Volk aufzuwiegeln. Pantaleone warf jedem von ihnen einen strengen Blick zu und drohte, dass sie es mit ihrem Leben bezahlen würden, falls ihnen der Gefangene entkäme. Dann nahm er Gerardo sanft die Leiche aus dem Arm und übergab sie zwei weiteren Häschern, die er ebenfalls zum Palazzo schickte. Schließlich ließ er zwei Männer als Wache vor dem Eingang des eingestürzten Hauses zurück und stieg selbst in das unterirdische Gewölbe hinab, nachdem er sich von Gerardo den Weg hatte beschreiben lassen.
Als Pantaleone außer Sichtweite war, wandte sich der junge Tempelritter an Mondino: »Meister, wie geht es Euch?«
»Schlecht. Ich brauche Liuzzo.« »Wollt Ihr, dass ich schnell zu ihm laufe und ihn hierherhole?«
»Nein, die Straßen sind immer noch unsicher«, antwortete Mondino. »Gehen wir besser zu ihm. Wenn du mir hilfst, kann ich laufen.«
Gerardo stellte sich neben ihn. Mondino legte ihm den gesunden Arm um die Schultern und presste mit der anderen Hand den Stofffetzen fest auf die Wunde. So machten sie sich auf den Weg. Gerardo schwieg und bewegte sich, als wäre seine Seele vom Körper losgelöst. Es war offensichtlich, dass er für Fiamma Sensi viel mehr als nur schlichte Sympathie empfunden hatte, und Mondino wollte seine Trauer nicht stören. Aber als sie den Platz vor Santo Stefano erreichten, konnte er sich nicht mehr zurückhalten.
»Und das Geheimnis des Eisens?«, fragte er gespannt.
»Ist verloren«, antwortete Gerardo abwesend. »Fiamma applizierte das Präparat in das Herz ihrer Opfer mit Hilfe eines hohlen Stiletts. Nachdem sie das Gift selbst getrunken hatte, ist ihr die Waffe aus der Hand geglitten, und das Pulver hat sich auf dem Boden verteilt.«
Für Mondino war diese Nachricht ein weiterer schmerzhafter Schlag; er empfand sie wie einen Hieb. Adia hatte Recht gehabt mit dem Stilett, aber letzten Endes war das Geheimnis doch verloren gegangen und alles vergeblich gewesen.
»Fiamma hat Remigio das Gift in den Fuß injiziert«, fuhr Gerardo nach einer Weile fort. »Das Blut des Bankiers hat sich vor meinen Augen in Eisen verwandelt. Wenn Ihr der Meinung seid, dass etwas so Grauenhaftes dem Wohl der Wissenschaft dienen sollte, dann könnt Ihr seinen Leichnam studieren.«
Mondino hörte seine Worte, doch er brachte keine Antwort heraus. Er spürte, wie seine Kräfte schwanden, und musste all seine Konzentration aufwenden, um einen Fuß vor den anderen zu setzen und darauf, dass ihn diese Schritte in Sicherheit bringen würden. Alles andere hatte Zeit.
Sie schwankten weiter Richtung Via San Vitale und hielten einander umklammert wie zwei Betrunkene nach einer durchzechten Nacht.
Im Hafen von Porticella pulsierte unter der Junisonne das Leben. Alles war wie immer. Mondino verließ vorsichtig das Boot, sorgsam darauf bedacht, den rechten Arm nicht ruckartig zu bewegen. Die Wunde an der Schulter hatte sich geschlossen und war dabei, vollends zu heilen, aber Liuzzo hatte ihn ermahnt, sie einen weiteren Monat nicht zu belasten.
Er öffnete die Gürteltasche, holte eine Münze heraus und bezahlte den Bootsführer. Dann machte er sich auf den Weg zu dem Gasthaus, in dem Adia lebte, und bemühte sich, nicht zu schnell zu gehen.
Er konnte es kaum erwarten, sie wieder in die Arme zu schließen. Während des Prozesses wegen der Eisenherzmorde, wie das Volk sie jetzt nannte, hatte er sie aus seinem Leben ausgeschlossen, um sie nicht zu verraten. Er und Gerardo hatten ihre Aussagen abgestimmt und nur von einer Kräuterhexe gesprochen, die ihnen jedoch nichts Wichtiges enthüllt hatte und nach dem Angriff von Guido Arlotti und seinen Spießgesellen irgendwohin geflohen war. Niemand hatte ihren Behauptungen widersprochen, weil das Rätsel um die Mörderin enthüllt worden war. Was sich als Makel auf den Amtszeiten des Podestà und des Capitano del Popolo hätte erweisen können, hatte sich als größter Erfolg ihrer Laufbahn erwiesen, und vor diesem Hintergrund hatten beide kein Interesse, den Dingen tiefer auf den Grund zu gehen. Umso mehr, da der Prozess wegen Fiamma Sensis Verbrechen von einem noch bedeutenderen überschattet wurde: dem gegen die Templer in der Provinz Ravenna, der am 21. Juni mit einer Anerkennung ihrer absoluten Schuldlosigkeit und damit im Sinne der Anklagen geendet hatte. Rinaldo da Concorezzo hatte die Ritter zu einer einfachen »Reinigung« verpflichtet, was bedeutete, dass sie vor ihren Bischöfen erscheinen und sich zum katholischen Glauben bekennen mussten, von mindestens sieben glaubensfesten Zeugen unterstützt. Danach, so lautete das Urteil, würden sie frei sein.
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