Lorenza kniete im Flur und wischte die Milch auf. Mondino beugte sich über sie und berührte sie an der Schulter. »Die Sbirren kommen, um mich zu verhaften«, flüsterte er. »Verrate mich nicht.«
Er rannte ins obere Stockwerk hinauf, während die Soldaten bereits ins Haus kamen und laut nach ihm fragten, betrat sein Arbeitszimmer und sah sich verzweifelt nach einem Versteck um. Einen Moment überlegte Mondino, ob er aus dem Fenster klettern und über die Dächer fliehen sollte, wie Gerardo in der Nacht, als jener Albtraum begonnen hatte. Doch die Mauer war zu hoch, und er lief Gefahr, dass man ihn fand, wenn er wie eine Salami an der Mauer baumelte, ohne sich auf das Dach hochziehen zu können. Außerdem würde er sich bei dem Versuch, in den Hof hinunterzuspringen, ein Bein brechen. Auf den Treppen ertönten Schritte und Stimmen. Kurzentschlossen kletterte der Arzt auf das Fensterbrett und kauerte sich auf dem schmalen Gesims zusammen, das um das Haus lief.
Gerade noch rechtzeitig. Einen Augenblick später wurde die Tür aufgerissen und jemand sagte: »Ihr beiden seht im Schlafzimmer nach. Ich übernehme das hier.«
Mondino meinte, die Stimme zu kennen. Er blieb unbeweglich in seinem improvisierten Versteck hocken, hielt den Atem an und hoffte, dass ihn niemand aus den Nachbarhäusern bemerkte. Er zwang sich, nicht an das zu denken, was ihn erwarten würde, wenn man ihn fasste - schändliche Beschuldigungen, ein Prozess, in dem er unmöglich seine Unschuld beweisen konnte, und beinahe sicher ein Todesurteil. Während die Wache das ganze Arbeitszimmer durchsuchte, dachte Mondino an die Aufzeichnungen zu seinem Anatomielehrbuch. Es konnte sein, dass der Mann den Packen öffnete, die Blätter mit den Notizen und Zeichnungen sah und sie als Beweise gegen ihn beschlagnahmte. Wo sie dann wohl enden mochten?
Doch all diese Überlegungen lösten sich in Luft auf, als er hörte, wie Schritte sich dem Fenster näherten.
Trügerische Hoffnung keimte in ihm auf, als der Mann stehen blieb. Mondino betete inbrünstig, er möge nicht ans Fenster treten. Er duckte sich auf das Sims, auf allen vieren, mit gesenktem Kopf, um sich besser im Gleichgewicht zu halten. Von draußen musste er wie einer dieser Wasserspeier wirken, wie man sie an Kirchenfassaden fand. Er hörte den Atem und roch sogar den Geruch des Mannes, eine Mischung aus Schweiß und Zwiebeln, stark, aber nicht unangenehm. Plötzlich bemerkte er, dass der Geruch intensiver geworden war und begriff. Er hob langsam den Kopf, und sie sahen einander an.
Mondino erkannte ihn sogleich, auch der Narbe wegen, die seinen Mund verunstaltete. Der Mann war vor einem Jahr zu ihm gekommen, verzweifelt, mit einem Tumor an der Unterlippe, den der Wundarzt, an den er sich gewandt hatte, nicht zu entfernen gewagt hatte. Mondino hatte ihn operiert, und als er geheilt war, hatte der Mann verkündet, er würde ihm auf ewig dankbar sein. Während der wenigen Momente, die sie einander schweigend ansahen, fiel Mondino ein, dass er Luca hieß, wie der Schutzpatron der Ärzte.
»Man hat mich geschickt, weil sie wissen, dass ich Euch kenne«, sagte die Wache leise.
Dann schwieg er. Man konnte seinem Gesicht ganz deutlich ansehen, dass er unentschlossen war. Mondino schöpfte Hoffnung.
Dann erlosch dieses Fünkchen Hoffnung genauso plötzlich wieder, wie es aufgeflammt war.
»Ich habe ihn gefunden!«, rief der Mann. »Kommt hierher!«
Er packte Mondino am Nacken, zog ihn hoch und half ihm, über das Fensterbrett zu steigen. Über sein Gesicht hatte sich eine eiserne Maske gelegt.
Resigniert gab sich Mondino in die Hände der beiden Sbirren, die inzwischen in das Arbeitszimmer geeilt waren.
»Mondino de’ Liuzzi«, sagte Luca. »Im Namen des Podestà, Ihr seid verhaftet!«
Uberto da Rimini arbeitete leichten Herzens. Der Erzbischof hatte es sich in den Kopf gesetzt, jedes einzelne Blatt der den Prozess betreffenden Akten zu lesen. Dies war ein deutliches Zeichen, dass er ihm misstraute, dennoch berührte den Inquisitor dies nicht mehr sehr. Vor einer Stunde war Guido Arlotti bei ihm erschienen, um ihm mitzuteilen, dass sein Plan aufgegangen war. Die auf dem Platz versammelte Menschenmenge würde sich kaum zerstreuen, bevor sie nicht die Leiche des falschen Studenten gesehen hätte, und der Capitano del Popolo hatte eine Schar Sbirren geschickt, um Mondino de’ Liuzzi zu verhaften.
Der Mönch, den Uberto zum Podestà geschickt hatte, um ihn über ihr Kommen zu unterrichten, war mit der Nachricht zurückgekehrt, dass es auf dem Platz nur so von aufgebrachten Leuten wimmelte und es ihm nicht gelungen war, den Palazzo des Podestà zu erreichen. Der Erzbischof hatte zwar erklärt, er ließe sich davon nicht einschüchtern, doch Uberto hielt diesen Wagemut für vorgetäuscht. Er war überzeugt, dass Rinaldo da Concorezzo auf das Verhör verzichten und innerhalb der sicheren Mauern des Konvents bleiben würde. Und am folgenden Tag würde es zu spät sein.
Alles war geregelt. Nun galt es nur noch abzuwarten.
»Hier heißt es, der Befragte hätte in Bezug auf die Beschuldigung, dass er den Ritus l’osculum sub cauda praktiziert habe, gelogen und seine Unschuld erklärt«, sagte Rinaldo da Concorezzo und sah von den Verhörprotokollen auf.
»Das stimmt«, bestätigte Uberto abwesend. »Sie erklären ständig, dass sie in allem unschuldig sind.«
»Das habe ich nicht gemeint«, erwiderte der Erzbischof trocken. »Ich wollte Eure Aufmerksamkeit vielmehr auf die Worte lenken, die Ihr gebraucht habt. Ihr habt nicht gesagt: ›Er hat sich für unschuldig erklärt‹, sondern: ›Er hat gelogen und seine Unschuld erklärt.‹ Wie könnt Ihr so sicher sein, dass er gelogen hat?«
»Verzeiht mir, Monsignore«, antwortete Uberto, dessen Geduld nun endgültig aufgebraucht war. »Das war eine Leichtfertigkeit von mir. Ich habe mir nur gedacht, dass das Offizium des Heiligen Vaters keine so obszöne Beschuldigung in die Liste aufgenommen hätte, wie jene, von den Novizen zu fordern, sie sollten den Anus ihrer älteren Mitbrüder küssen, wenn man sich vorher nicht vergewissert hätte, dass es sich um eine begründete Anschuldigung handelte. Deshalb habe ich daraus geschlossen, dass die Unschuldserklärung des Angeklagten eine Lüge sei. Es ging darum, an ihm zu zweifeln oder am Offizium des Heiligen Vaters.«
Der Erzbischof nickte. »Ich sehe, dass wir unterschiedliche Sprachen sprechen, Pater Uberto«, sagte er. »Für Euch geht es immer darum, jemandem aufgrund seiner angenommenen Zuverlässigkeit zu glauben oder nicht. Eurer Denkweise ist die Frage von Beweisen völlig fremd.«
»Ich gebe zu, dass ich darin meine Grenzen habe.« Nachdem er Rinaldos Vorwürfe all die Zeit stumm ertragen hatte, ließen Ubertos Worte nun seine Wut erkennen, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. »Ich bin nun mal ein Mönch, und seit meiner Kindheit hat man mich gelehrt, dass der Glaube keiner Beweise bedarf.«
»Dann erscheint es Euch also logisch, für ein Urteil über menschliche Verfehlungen und die christliche Lehre ein und dasselbe System anzuwenden, als seien diese gleichzusetzen?«
»Das habe ich nicht gesagt, Monsignore.«
»Gesagt habt Ihr es tatsächlich nicht, aber Eure Taten sprechen für Euch. Seid ehrlich, Pater Uberto. Mir kommen ernsthafte Zweifel, ob Ihr der Richtige seid, um diese Aufgabe zu erfüllen.«
Dieser Schlag traf Uberto unvorbereitet. Er öffnete ein paarmal stumm den Mund, bis er schließlich hervorbrachte: »Wollt Ihr mich etwa meines Amtes entheben? Aber das geht nicht. Es sind nur noch wenige Wochen bis zum Ende des Prozesses. Hinsichtlich der vom Pontifex veranschlagten Zeiten sind wir bereits im Verzug, und …«
»Beruhigt Euch, ich weiß auch, dass es zu spät für einen Austausch ist. Ich habe nur vor, Euch zwei Franziskanermönche meines Vertrauens zur Seite zu stellen, damit Ihr durch eine konstruktive Gegenüberstellung gemeinsam die gerechtesten Entscheidungen treffen könnt.«
Читать дальше