Gestärkt durch diese Gedanken verließ Uberto seine Zelle und befahl dem ersten Mönch, dem er auf dem Flur begegnete, sofort zum Podestà zu gehen und ihn über den unmittelbar bevorstehenden Besuch des Erzbischofs zu unterrichten. Danach kehrte er in sein Arbeitszimmer zurück, wo er Rinaldo da Concorezzo mitteilte, er hätte die gewünschten Anordnungen gegeben und man müsse dem Podestà ein paar Stunden Zeit lassen, um sich auf ihren Empfang vorzubereiten.
»Dann lasst uns mit unserer Arbeit fortfahren«, sagte der Erzbischof. »Wir werden das Kloster eben später verlassen.«
»Wie Ihr wünscht, Monsignore.«
Wenn Guido seine Aufgabe gut erfüllte, würde die Stadtmitte in zwei oder drei Stunden bereits unpassierbar sein. Uberto rüstete sich mit Geduld und Sanftmut und holte die Prozessakten aus einem mächtigen, verschlossenen Schrank im Hintergrund des Raumes.
Gerardo öffnete die Augen in der Dunkelheit und wusste nicht, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Der Gedanke an Fiammas Tagebuch drängte sich in seinen Kopf und ließ keinen Raum für anderes, doch weil sein Körper von der Folter geschwächt und von der Kälte steif geworden war, konnte er sich nicht einmal aufsetzen. Er musste sich also in Geduld üben, ganz langsam zunächst nur Hände und Füße bewegen, sich vorsichtig auf die eine Seite, dann auf die andere rollen, um schließlich den Nacken zu beugen und die Schultern zu heben. Erst nach einer endlosen Zeit, in der er seinen Körper wieder die einfachsten Bewegungen gelehrt hatte, wie ein Toter, der aus dem Grab aufersteht, gelang es ihm, sich auf alle viere aufzurichten, sich die Lampe zu holen und den Ziegelsteinsplitter so kräftig über den Boden zu ziehen, dass der einen kleinen Funkenregen erzeugte.
Nichts.
Um den Docht anzuzünden, reichte der Funke nicht aus, man brauchte eine Lunte dazu, und das Stroh war zu feucht.
Gerardo packte den Saum seines Gewandes mit der unversehrten Hand und führte ihn an den Mund. Er zerrte mit den Zähnen daran, bis er etwas abgerissen hatte. Geduldig machte er sich daran, den Stoff auszufransen, so dass er auf dem Boden ein kleines Häufchen Fasern erhielt. Er verteilte sie über einige der trockensten Strohhalme und zog wieder den Splitter über den Boden. Beim vierten oder fünften Versuch entzündete sich die Lunte und glomm. Gerardo blies zart darauf, überaus vorsichtig, um sie nicht auszupusten, und endlich erhob sich aus dem Haufen ein Flämmchen. Rasch nahm er einen Strohhalm und führte ihn an den Docht. Kurz darauf breitete sich in der Zelle ein flackerndes Licht aus. In der Lampe war nur noch wenig Öl, deshalb beeilte sich Gerardo mit dem Lesen des Tagebuchs. Es war auf Latein geschrieben, und über jeder Seite stand ein Datum.
18. Januar A.D. 1305
Heute bin ich seit einer Woche in der Höhle oder vielleicht sogar noch länger. Der Schmerz im Gesicht hat ein wenig nachgelassen, doch die Haut spannt, als gehörte sie nicht zu mir. Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin. Ich bin lange gelaufen, unter Tränen und mit zusammengebissenen Zähnen, dann habe ich geschlafen. Meine Erinnerungen an jene Tage sind verschwommen. Doch von dem, was vorher geschehen ist, erinnere ich jede Einzelheit, als würde ich es gerade vor mir sehen. Eigentlich habe ich anfangs gar nichts gesehen, sondern nur gehört, von dem Versteck unter dem Boden aus, wo ich mich auf Befehl meines Vaters verborgen hatte, als die drei Männer ihre Pferde vor unserem Haus anhielten.
Es waren drei Tempelritter. Sie sind ins Haus gekommen, haben ihn gefesselt und ihn mit glühenden Eisen gefoltert, wobei sie von ihm forderten, er solle das Geheimnis des Elixiers offenbaren. Er sagte immer wieder, er kenne es nicht, aber sie haben ihm nicht geglaubt. Sie haben etwas von einem türkischen Alchimisten erzählt, den man ermordet und ohne Herz vor den Toren Gharnatas gefunden hatte. Und sie beschuldigten meinen Vater, ihn getötet zu haben. Vater hat weiter alles abgestritten, doch ich spürte deutlich, dass er log. Und zwar, weil er im letzten Jahr die alchimistischen Versuche aufgegeben hatte, weil er mich nicht mehr die Tugend des Einfachen lehrte und darauf bestanden hatte, dass ich lernte, Fleisch und Knochen zu zerteilen wie ein Medicus, zuerst an toten Hunden und Katzen, dann an menschlichen Leichen, die er sich irgendwie beschaffte.
Doch eigentlich wusste ich da noch nicht, dass ich es begriffen hatte. Erst später, als ich hierherkam, machte ich mir einen Reim auf alles. Doch in diesem Moment, verborgen in meinem Versteck, zitterte ich vor Angst und flehte zu Jesus, dass diese Männer aufhörten, meinen Vater zu quälen, und dass sie mich nicht fänden.
Schließlich fanden sie mich aber doch. Ohne es zu merken muss ich ein Geräusch gemacht haben, denn ganz plötzlich wurde es still im Raum. Dann hat einer der Männer unvermittelt den Teppich hochgerissen, die Luke geöffnet und mich gewaltsam herausgezogen. Ich schrie und weinte - genau wie mein Vater. Doch sie kannten keine Gnade. Sie haben mich gefesselt vor ihn geschleppt und haben ihm gesagt, sie würden mich töten, wenn er nicht redete. Weinend beteuerte Vater erneut, dass er kein Geheimnis zu enthüllen hätte. Sein ganzes Leben lang hätte er versucht, das Elixier zu erschaffen, sagte er, aber es wäre ihm nie gelungen. Der älteste und der jüngste Tempelritter zweifelten kurz und sahen denjenigen fragend an, der ihr Anführer zu sein schien: einen großen, kräftigen Mann mit lockigen blonden Haaren und behaarten Armen. Doch dieser zeigte nur auf das Kohlebecken mit den glühenden Eisen, die sie benutzt hatten, um meinen Vater zu foltern.
»Sehen wir mal, ob dein Geheimnis die Qualen deiner Tochter wert ist«, sagte er höhnisch.
Der Jüngste, der dem Gesicht nach beinahe wie ein guter Mensch wirkte, stellte sich vor das Kohlebecken und meinte: »Kommandant, das Mädchen hat nichts damit zu tun! Wir können uns eine solche Schuld nicht aufladen!«
Der andere, der Latein mit französischem Akzent sprach, erwiderte: »Es ist zu spät, es dir anders zu überlegen, Angelo. Er muss reden. Und wenn der Schmerz am eigenen Leib nicht ausreicht, wird ihn vielleicht der seiner Tochter dazu bringen.«
Ich hoffte so sehr, dass der junge Mann sich ihm weiter widersetzen und mich beschützen würde - immerhin hatte ich doch nichts getan! Aber er senkte nur noch demütig den Kopf und gab den Weg frei. Daraufhin nahm der älteste Templer, die andern nannten ihn Wilhelm, ein glühendes Eisen aus dem Becken und näherte es meinem Gesicht. Vater schrie, er solle mir nichts tun und dass er ihnen sagen würde, was sie wissen wollten. Darauf zog der alte Mann seine Hand zurück, und Vater fing an zu reden. Er sagte, das Geheimnis des Elixiers wäre zu bedeutend, um es zu Hause aufzubewahren und dass es sich in einer großen Höhle unterhalb der Hügel befände. Er hätte nur die Karte hier im Haus, wie man zu der Höhle gelangte. Dabei deutete er mit dem Kopf auf das höhere Regal. Die drei warfen es einfach um und entdeckten dahinter tatsächlich die Nische in der Mauer mit der Landkarte.
Der Anführer bedeutete dem alten Mann, dass dieser mit den Eisen wieder zu mir kommen sollte.
»Aber Hugues«, erwiderte dieser und wandte den Kopf in Richtung meines Vaters. »Er hat doch schon alles gesagt.«
»Wir haben wenig Zeit«, beharrte ihr Anführer. »Er muss begreifen, dass er lieber nicht versuchen sollte, uns zu hintergehen und uns auf die Suche nach dem Elixier einfach irgendwohin schicken darf. Verunstalte ihr Gesicht. Und wenn er uns nicht gleich alles sagt, blenden wir sie. Zuerst ein Auge, dann das andere.«
»Bitte nicht!«, flehte Vater. »Ich habe Euch doch die Wahrheit gesagt!«
Doch diesmal machte der alte Mann weiter. Ich habe noch gesehen, wie sich das rotglühende Eisen meinem Gesicht näherte, ich habe geschrien. Zuerst habe ich nur einen heißen Hauch an meiner Wange gespürt, wie wenn man einen Ofen öffnet, um nachzusehen, ob das Brot schon fertig ist, aber dann kam ein Schmerz, der jede Vorstellungskraft überstieg, und es stank nach verbranntem Fleisch. Ich weiß nur noch, dass ich einen schrecklichen Schrei ausstieß, dann verschwamm alles vor meinen Augen.
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