Mondino ließ die Schultern hängen, wandte sich Gerardo zu, der auf der Straße wartete, und verließ schweigend das Haus. Er zog die Tür hinter sich zu.
Ein Abschnitt seines Lebens war beendet. Alles um ihn herum brach zusammen.
Guido Arlotti beglückwünschte sich dazu, dass er nicht der Müdigkeit nachgegeben hatte und schlafen gegangen war - sonst hätte er diese günstige Gelegenheit verpasst. Ein Arzt von Mondinos Ruf verließ nicht im Morgengrauen das Haus, um einen Patienten zu besuchen, wenn es sich nicht um einen äußerst schweren Fall handelte.
Oder um etwas, das gegen das Gesetz verstieß.
Er folgte den beiden Gestalten höchst vorsichtig in einem Abstand von zwanzig Schritten. Der Arzt hatte sehr gute Ohren und hätte ihn am Vorabend beinahe entdeckt. Auch dieses Mal schien er zu spüren, dass er verfolgt wurde, denn auf dem Weg durch die Stadt drehte er sich mehrmals um. Da Guido nun wusste, mit wem er es zu tun hatte, lief er keine Gefahr, entdeckt zu werden. Er hielt sich an die noch im Dunklen liegenden Bogengänge und hastete von einer Säule zur nächsten.
Als er ein Geräusch hörte, drehte er sich ruckartig um und hob die Fäuste angriffsbereit vor die Brust. Nachts tat man gut daran, in der Straßenmitte zu laufen wie Mondino und sein Begleiter. Dort musste man zwar auf Schlammpfützen, Pferdemist und den unebenen Boden achten, aber zumindest vermied man unangenehme Überraschungen, die einen aus dem Schatten eines Hauseingangs oder hinter der Säule einer Arkade überfallen konnten. Zwischen zwei Säulen hatte Guido dieses Geräusch gehört: das Rascheln von Stoff und keuchendes Atmen. Er zückte seinen Dolch, den er unter dem Gewand verborgen trug, und beugte sich vor, um besser sehen zu können. Da bemerkte er im Dunkeln eine unförmige Masse, die sich als zwei ineinander verschlungene Körper entpuppte: ein Mann und eine Frau in Lumpen, zwei Herumtreiber, die kein Dach über dem Kopf besaßen, wohin sie nachts heimkehren konnten, die aber dennoch die Zeit und die Lust hatten, sich den Vergnügungen des Fleisches hinzugeben.
Guido entspannte sich und nahm seine hastige Verfolgung wieder auf. Im Straßengewirr der Stadtmitte wählten die beiden Männer immer schmalere und schlechter beleuchtete Wege. Sie unterhielten sich erregt, und Guido hätte einen Goldflorentiner gegeben, um zu verstehen, was sie sagten, denn er war sich sicher, dass er vom Inquisitor das Doppelte dafür erhalten hätte. Doch leider konnte er nicht noch näher an die beiden herankommen, und so musste er sich damit begnügen, sich in den wenigen verbliebenen dunklen Winkeln herumzudrücken. Die Morgenröte färbte die Mauern bereits rosa. Mondino und sein Begleiter gingen durch die Arkaden, in denen die Seidenhändler ihren Sitz hatten, betraten das Viertel mit den Fischhandlungen und bogen schließlich in die Via delle Clavature ein, die ihren Namen von den hier ansässigen Schlüsselmachern hatte. Die ersten Handwerker öffneten bereits ihre Läden und trugen in aller Ruhe ihre Waren nach draußen. Die Ärmsten der Armen, die hier im Schutz der Bogengänge geschlafen hatten, standen eilig auf, ehe jemand kommen und sie verscheuchen konnte. Guido jagte mit einem Fußtritt einen Jungen fort, der ihn an einem Ärmel gepackt und um ein Almosen gebettelt hatte, dann verbarg er sich schnell hinter einer Säule. Bestimmt hatte Mondino den unterdrückten Schrei des Bettlers nicht gehört, und wenn doch, hatte er es gewiss für einen Streit unter Obdachlosen gehalten.
Guido verließ sein Versteck erst wieder, als die beiden schon um die Ecke gebogen waren, und eilte ihnen hastig nach. Sie gingen nach Süden, in Richtung San Niccolò delle Vigne, wo sich die Basilika San Domenico erhob. Dann wandten sie sich nach Osten, überquerten den Savena und bogen in das Viertel der Papiermacher ein. Dort trugen die Geschäftsleute bereits große Packen Hadernpapier heraus, das sie als Notizpapier an Studenten und Notare verkaufen wollten, außerdem einige Stapel mit Pergamentblättern, die nach dem Grad ihrer Qualität und der Helligkeit unterschieden wurden. Die Stapel beschwerten sie mit großen Flusskieseln, damit der Wind die Blätter nicht fortwehte.
Das war nun wirklich der ungünstigste Zeitpunkt für eine Verfolgung, dachte Guido zornig. Es war nicht mehr Nacht, andererseits waren aber auch noch nicht genügend Leute unterwegs, dass er in der Menge untertauchen konnte. Ganz im Gegenteil würde den wenigen Menschen, die um diese Tageszeit schon unterwegs waren, ein Mann auffallen, der hastig von einer Säule zur nächsten schlüpfte. Und genau diese Leute konnten ihm Schwierigkeiten bereiten. Er beschloss daher, seine Taktik zu ändern, und lief jetzt entspannt vorwärts, blieb ab und zu an einer Ladentheke stehen, wechselte hin und wieder ein Wort mit einem Handwerker oder Händler und kehrte Mondino dabei so oft wie möglich den Rücken zu.
Schließlich blieben die beiden vor dem bescheidenen, aber recht gepflegten Haus eines Kleinhändlers oder tüchtigen Handwerkers stehen. Der jüngere Mann öffnete die Tür mit einem großen Schlüssel, den er aus einer Tasche seines Gewandes gezogen hatte; dann traten sie ein.
Guido bemerkte schnell, dass alle Läden geschlossen waren, daher brauchte er gar nicht erst zu versuchen, durch die bespannten Fenster zu spähen. Er fand einen geschützten Platz, von dem aus er den Eingang beobachten konnte, und richtete sich auf eine längere Wartezeit ein. Sobald sie ein Fenster öffneten, würde er näher kommen, um die beiden Männer zu belauschen, doch sonst war es sinnlos, ein solches Risiko einzugehen.
Das Haus lag völlig im Dunkeln. Mondino wartete im Eingang, bis Gerardo eine Kerze in einem Halter aus Ton angezündet hatte, ehe er weiterging. Im flackernden Licht des Dochts sah er, dass in der Küche ein heilloses Durcheinander herrschte: Jeder einzelne Gegenstand - Teller, Krüge, Pfannen, Töpfe, Stühle, Lumpen zum Abtrocknen - war nicht an seinem Platz. Es sah beinahe so aus, als hätte sich jemand einen Spaß erlaubt und alles ausgeräumt, ohne die Gegenstände zu benutzen.
Gerardo stellte die Kerze auf den Kaminsims.
»Das war ich«, sagte er, als er den verwirrten Blick Mondinos bemerkte. »Nachdem ich den Kommandanten ins Bett gebracht habe, habe ich etwas zu essen gesucht, aber ich habe nicht einmal einen Kanten trockenes Brot gefunden. Ach, übrigens, hier gibt es keine Diener, wir können frei reden.«
Mondino nickte. »Bring mich zu ihm. Ist er im Schlafzimmer?«
»Ja. Aber erst müssen wir unser Gespräch zu Ende führen.«
»Welches Gespräch?«
In Wirklichkeit wusste er nur zu gut, worauf Gerardo sich bezog. Auf dem Weg hierher hatte er ihn über seine Unterredung mit dem Inquisitor unterrichtet und ihm genau erklärt, was das für ihn bedeutete.
»Magister«, sagte Gerardo ernst. »Das könnt Ihr mir nicht antun.«
Mondino fühlte, wie blinde Wut in ihm aufstieg. »Was kann ich dir nicht antun? Wer hat denn in der Nacht mit einer Leiche im Arm an meine Tür geklopft? Nur deinetwegen bin ich überhaupt in diese Lage geraten. Außerdem rede ich ja gar nicht davon, dich in den Tod zu schicken. Sollte ich gezwungen sein, dich anzuzeigen, werde ich dich vorher warnen, damit dir genügend Zeit zur Flucht bleibt. Im Grunde ändert sich für dich dadurch nichts. Denn es wird jetzt schon nach dir gesucht.«
Gerardo stand neben dem Eichentisch, auf dem eine große kupferne Abwaschschüssel thronte, umgeben von einem Gefolge aus Tellern und anderem Geschirr. Bei Mondinos Worten packte er eine Schöpfkelle aus Holz und schwang sie wie eine Waffe. Einen Moment lang fürchtete Mondino, dass er ihn angreifen wollte, aber der junge Mann schlug sie nur heftig in die eigene Handfläche, während er sprach.
»Ich werde als Tempelritter und wegen Brandstiftung gesucht«, sagte er. »Das mit dem Brand ist schwer zu beweisen, und wenn der Prozess mit einem Freispruch für den Orden endet, könnte ich in weniger als einem Monat schon wieder ein freier Mann sein. Nach Eurer Aussage bin ich dagegen ein flüchtiger Mörder. Ich werde weder Land noch Freunde besitzen, in die weite Ferne ziehen, einen anderen Namen annehmen und mir ein ganz neues Leben aufbauen müssen.«
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