Schließlich entschied er sich, Mondino zu folgen, so wie er es ursprünglich vorgehabt hatte. Die beiden würden einander bestimmt am Nachmittag erneut treffen, und bis dahin hatte er ein paar zuverlässige Männer benachrichtigt, die er dann auf den Templer und Mondino ansetzen könnte. Das würde ihm Zeit geben, das Haus zu betreten. Sobald er dann alle Informationen gesammelt hatte, würde er sich unverzüglich zum Inquisitor begeben.
Während der junge Mann Richtung Santo Stefano lief, kam Guido hinter der Säule des Bogengangs hervor, in dem er sich versteckt hatte, und machte sich an Mondinos Verfolgung. Er sah ihn zwar nicht mehr, weil er vorhin aber gehört hatte, wohin er unterwegs war, war er nicht weiter beunruhigt.
Gerardo lief mehr schlafend als wach durch die Straßen, die das Viertel der Papierhändler von der Basilika Santo Stefano und dem Trebbo dei Banchi trennten. Er konnte nicht mehr logisch denken, und immer wieder kehrten Erinnerungsfetzen zu den Ereignissen der gerade vergangenen Nacht zurück: das unterirdische Gewölbe, die Bettler, die Flucht … Plötzlich sah er wieder Bonagas schmerzerfülltes Lächeln vor sich, das sich zu einer Grimasse des Schreckens verzerrte, kurz bevor ihm Hugues de Narbonne den Schädel wie eine reife Melone spaltete.
Er spürte einen heftigen Schlag und hörte einen empörten Aufschrei und eine ganze Reihe von Flüchen. Erst da wurde ihm bewusst, dass er wie ein Schlafwandler mit geschlossenen Augen durch die Gegend lief und gegen das Rad eines Gemüsekarrens gestoßen war, wodurch er den Bauern, der ihn zog, aus dem Tritt brachte. Er entschuldigte sich und ging schnell weiter, ehe die Schreie des Mannes zu viele Leute zusammenriefen. Er war müde, aber mit dem Schlafen musste er sich bis zum Nachmittag gedulden. Noch gab es zu viele ungelöste Fragen - und der Geheimnisse wurden immer mehr -, und die Zeit war knapp. Hugues de Narbonne war möglicherweise ein Mörder und Verräter seines Ordens - das herauszufinden, war seine vordringliche Mission. Und dann musste er auch den Bettler mit der verstümmelten Hand finden. Gerardo hoffte inständig, dass die langwierige Suche auch wirklich die Mühe wert war. Außerdem musste er erfahren, welche Tempelritter kürzlich in die Stadt gekommen waren, und herausfinden, wer von ihnen das nächste Opfer sein könnte.
Und als ob das nicht genügte, gab es da eine beunruhigende Frage, über die Mondino und er kaum gesprochen hatten, weil sie nicht genügend in der Hand hatten, um darüber auch nur eine vage Vermutung anstellen zu können. Wer waren die Armbrustschützen, die ihm und Hugues de Narbonne aufgelauert hatten? Warum wollten sie sie töten? Wer hatte sie geschickt?
Gerardo wusste es nicht. Er nahm an, dass Bonaga ihnen Bescheid gesagt hatte, als Hugues und er sich in das unterirdische Gewölbe hinabbegeben hatten. Wahrscheinlich meinte der Junge deshalb, er habe sie verraten. Schade, dass er ihnen nicht mehr hatte sagen können.
Höchstwahrscheinlich würde derjenige, der die drei Männer geschickt hatte, weitere Mörder entsenden, um ihr Werk zu vollenden, sobald er vom Fehlschlag der ersten Mission erfuhr. Mondino und ihm blieb nichts weiter übrig, als tatenlos zuzusehen und sich zu fragen, wo und wann es zum nächsten Angriff kommen würde.
Als er die Piazza Santo Stefano erreichte, blieb Gerardo unvermittelt stehen, weil er einige Häscher aus einer der übelriechenden Gassen kommen sah, die zu dem unterirdischen Gewölbe der Bettler führten. Hinter ihnen gingen zwei Totengräber, die einen Karren mit Leichen hinter sich herzogen. Obwohl er wusste, dass er am besten so schnell wie möglich verschwand, blieb Gerardo wie angewurzelt stehen und beobachtete, wie der kleine Trauerzug ganz nah an ihm vorüberzog.
Die Armbrustschützen waren recht gut gekleidet gewesen, sie trugen kurze Wolltuniken über den Hemden, gestrickte Beinlinge, gutes Schuhwerk und leichte Umhänge, die offensichtlich dazu dienten, ihre Waffen zu verbergen. Einer der drei, ein junger Mann mit langen braunen Haaren, war eleganter gekleidet als die anderen beiden und trug unter seinem Umhang eine Weste aus versteiftem Leder. Sie hatte ihn jedoch nicht vor Bonagas Steinen und vor Hugues’ Klinge schützen können: Seine Nase war gebrochen und der Kopf fast vollständig von den Schultern abgetrennt. Die Passanten zeigten verwundert mit dem Finger auf seine übel zugerichtete Leiche, als ob sie ihn kannten, doch Gerardo wagte es nicht, sie zu fragen, wie der tote Mann hieß.
Als er Bonagas kleinen Körper und dürre Beine unter einer der Leichen hervorragen sah, schüttelte er gerührt den Kopf. Einer der Neugierigen neben ihm deutete seine Geste falsch und meinte: »Diese Stadt ist nicht mehr sicher. Das liegt nur an den vielen fremden Studenten, die hierherkommen und sich als Herren aufspielen.«
»Ach ja«, sagte Gerardo kurz angebunden, ohne den anderen anzusehen.
»Ihr seid doch nicht etwa auch so ein Student, oder?«, fragte der Mann, als bereute er seine Bemerkung. »Ich wollte Euch nicht beleidigen, es ist nur so, dass …«
Gerardo hob beschwichtigend die Hände und machte sich wieder auf den Weg. Bei all seiner Verwirrung fragte er sich, ob das, was ihn antrieb, schneller zu gehen, wirklich nur die Eile war, seine Aufgabe so bald wie möglich hinter sich zu bringen, um dann endlich schlafen zu können, oder ob da nicht auch ein Funken Hoffnung mitspielte, Fiamma wiederzusehen, wenn er mit dem Bankier sprach.
Als er Remigio Sensis Haus erreichte, merkte Gerardo sofort, dass dort etwas nicht stimmte. Die Luke zur Straße stand offen - wie immer um diese Tageszeit -, aber dass die weit geöffnete Haustür unbewacht war, schien Gerardo ungewöhnlich. Dann sah er einen der Diener, die sonst immer für Schutz sorgten, aus einem schmalen Gässchen kommen, das am Innenhof des Hauses vorbeiführte, unmittelbar gefolgt von seinem Kameraden. Beide wirkten sehr besorgt.
Gerardo hielt sie auf und fragte sie, was passiert sei.
»Dahinten liegt ein Toter«, sagte einer.
»Ein Landstreicher«, meinte der andere. »Die Frauen sind sehr beunruhigt. Aber das ist nicht das Problem.«
»Was denn dann?«
Der Mann wollte schon antworten, doch sein Kamerad stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Seite und deutete mit dem Kinn zum Eingang des Gässchens. Der andere schwieg sofort, als Fiamma in einem Hauskleid aus der kleinen Straße kam. Unter der Haube quoll ihr dichtes Haar hervor.
»Messer Gerardo, Euch schickt der Himmel«, rief sie aus. »Ich bin völlig verzweifelt.«
»Was ist passiert? Ich habe gehört, es hat einen Toten gegeben.«
In der Aufregung des Moments legte Gerardo ihr eine Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen. Fiamma errötete und starrte ihn an, während sie einen Schritt zurückwich.
»Kommt mit und seht selbst«, sagte sie und ging zurück in die Gasse.
Gerardo folgte ihr sofort. Die Gasse war nicht gepflastert, und auf dem trockenen Schlamm türmten sich Berge von Unrat, den jemand gegen die Mauer gekehrt hatte, um den Weg freizumachen. Auf einem dieser Haufen lag die Leiche eines Mannes.
Gerardo näherte sich ihm, während Fiamma zur Seite trat, um ihn vorbeizulassen. Er bemerkte sofort den Pilgerstab aus Birkenholz und die schwarze Mönchskutte, die schmutzig und ein wenig zerrissen war. Als sein Blick auf das linke Handgelenk fiel, das in einem Stummel endete, gab es keine Zweifel mehr: Dieser Tote war der Ferrareser. Er hatte seine blutverschmierten Hände vor die Bauchwunde gepresst, die ihm jemand mit einem Dolch oder einem schmalen Schwert geschlagen hatte. Seine Augen standen weit offen, und die Lippen waren zu einer schmerzerfüllten Grimasse verzogen.
»Wer hat ihn getötet?«, fragte Gerardo.
Fiamma schaute ihn an, als wollte sie abwägen, ob man ihm trauen könne. »Ich weiß es nicht«, sagte sie dann und senkte den Blick.
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