»Kommt nur herein«, sagte die Frau und wandte sich zu ihm um. »Ihr seid also zurückgekehrt. Ich nehme an, dass Ihr dieses Mal etwas höflicher sein werdet.«
Mondino verbeugte sich leicht in ihre Richtung, was man als Begrüßung oder als eine Art Bestätigung deuten konnte. Er trat ein und blieb in der Mitte des Raumes stehen. Die Frau klappte das Buch zu und lächelte. Dann schien sie sich doch noch auf ihre guten Manieren zu besinnen, deutete mit königlicher Geste auf die einzige Bank des Hauses an einer Längsseite des Tisches und meinte: »Setzt Euch bitte. Ihr habt mir noch nicht gesagt, wer Ihr seid.«
Mondino erklärte, dass er ein Scholar des Studiums sei, wobei er den Namen eines seiner Schüler nannte. Die Frau sah ihn durchdringend an und stellte sich ihrerseits vor: »Hadiya Bint Aabi Bakr, zu Euren Diensten. Aber nennt mich ruhig Adia Bintaba wie jeder hier.« Sie setzte sich in geziemendem Abstand neben ihn auf die Bank und erklärte, als wären sie erst einen Moment vorher auseinandergegangen: »Erzählt mir von der Karte.«
Mondino zog das Pergament eilig aus der Tasche; diesmal sprach er nicht von Geld. Wenn diese Frau für die Übersetzung einen Lohn wollte, würde sie ihn danach fragen müssen.
Adia nahm die Karte und studierte sie aufmerksam. »In den Versen auf Arabisch geht es um eine Hochzeit«, sagte sie und bestätigte damit die Version von Hugues de Narbonne. »Aber sie sind nicht vollständig. Es scheint, als ob einige Worte fehlen würden, denn so, wie er hier steht, ergibt der Text keinen Sinn. Was die Karte an sich betrifft, so scheinen die Buchstaben zwischen den Löwen etwas Rotes zu bezeichnen, was mir seltsam vorkommt.«
»Warum?«
»Weil es überflüssig ist, das Wort ›rot‹ unter einen roten Punkt zu schreiben. Der Text muss noch eine andere Bedeutung haben.«
»Könnte damit vielleicht ein Ort in Spanien gemeint sein?«
Adias Gesicht erhellte sich. »Aber natürlich. Die rote Festung der Stadt Gharnata, die Ihr Granada nennt. Wahrscheinlich ist sie der Ausgangspunkt, während der nicht näher bezeichnete Punkt oben das Ziel darstellen soll.«
Hugues de Narbonne hatte die Wahrheit gesagt. Mondino ließ die Schultern hängen und sank in sich zusammen. Enttäuschung war gar kein Ausdruck für seinen Gemütszustand. Erst in diesem Moment wurde ihm klar, dass er dem Franzosen allzu bereitwillig Unlauterkeit unterstellt hatte, weil er sich wünschte, dass sich in diesen Versen eine wichtige Botschaft fand. Stattdessen war es nur eine Aneinanderreihung sinnloser Worte, und wenn sich doch etwas darin verbarg, dann höchstens Angaben, wie man einen Ort in Spanien erreichte.
»Seid Ihr ganz sicher? Ich meine, wisst Ihr, diese Karte könnte auch etwas mit Alchimie zu tun haben …«
»Wirklich?«, unterbrach Adia den Arzt, dabei leuchteten ihre Augen unergründlich. »Wollt Ihr mir vielleicht andeuten, dass es sich bei der Hochzeit in den Versen um die Vereinigung von Quecksilber mit Schwefel handelt, um das metallische Prinzip und das unentzündliche der Materie? Habe ich richtig geraten?«
»Und woher wisst Ihr all das?«, stotterte Mondino. Nun war er vollkommen verwirrt.
Eine Überraschung jagte die nächste. Diese Frau klang nicht wie irgendeine Kräuterhexe vom Lande, ja nicht einmal wie eine Frau.
Adia stützte einen Ellenbogen auf den Tisch, öffnete den Mund zu einem Lächeln und ließ weiße regelmäßige Zähne sehen. »Ich stamme aus einer Familie von Alchimisten. Mein Vater hatte keine männlichen Nachfahren, daher hat er seine Kenntnisse an mich weitergegeben. Das ist zwar nicht gerade üblich, aber manchmal kommt es vor.«
»Der Mann, der mir Euren Namen genannt hat, hat gesagt, Ihr wärt eine Kräuterhexe«, sagte Mondino.
Adia neigte sich zu ihm hinüber und Mondino bemerkte, dass sie nicht mehr so jung war, wie er bisher angenommen hatte. Sie musste ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt sein, und doch sah er in diesem Haus keine Anzeichen, dass sie einen Mann oder Kinder hatte. Hatte eine so schöne Frau wirklich niemanden gefunden, der sie ehelichen wollte? Oder wollte sie vielleicht gar nicht heiraten? Das schien zwar abwegig, aber sie war solch eine erstaunliche Persönlichkeit, dass er sich das bei ihr durchaus vorstellen konnte.
»Die Leute misstrauen einer Kräuterhexe«, sagte Adia ernst. »Aber noch mehr misstrauen sie einer Frau, die sich mit Wissenschaften beschäftigt. Ich habe das geringere Übel gewählt.« Sie lächelte wieder, und Mondino meinte, in ihren Augen einen Hauch von Traurigkeit zu entdecken. »Außerdem hält es die Männer im Zaum, wenn man als Kräuterhexe gilt«, fügte sie an, »die guten wie die schlechten.«
»Ich verstehe«, stotterte Mondino verlegen, nur um irgendetwas zu sagen. »Wenn Ihr also meint, dass diese Verse nichts mit Alchimie zu tun haben, kann ich Euch vertrauen.«
Adia Bintaba setzte sich auf. »Ich habe nichts dergleichen gesagt. Die Tatsache, dass auf einer Karte voller alchimistischer Symbole von einer Hochzeit die Rede ist, kann kein Zufall sein. Ich habe nur gesagt, dass diese Verse unvollständig sind. Wenn wir wüssten, welche Worte fehlen, wäre alles klarer. Habt Ihr sonst nichts? Was weiß ich, einen Brief, ein Buch … Seid ehrlich zu mir, wenn Ihr wollt, dass ich Euch helfe.«
»Diese Karte ist alles, was ich habe«, sagte Mondino achselzuckend.
»Und wie seid Ihr in ihren Besitz gekommen?«
»Das kann ich Euch nicht sagen.«
Adias Blick sagte ihm auch ohne Worte überdeutlich, was sie von diesem Mangel an Vertrauen hielt. »Das könnt Ihr also nicht sagen«, wiederholte sie nachdenklich. »Könnt Ihr mir zumindest schildern, welches Geheimnis Ihr mit dieser Karte zu entdecken hofft?«
Mondino hatte diese Frage nicht erwartet und war einen Moment sprachlos. Er wollte sie auf die richtige Spur führen in der Hoffnung, dass die Frau eine Verbindung entdeckte, die ihm entgangen war. Aber er konnte ihr gewiss nicht erzählen, was er getan hatte. Also versuchte er krampfhaft, etwas zu erfinden.
»Wie ich Euch gesagt habe, studiere ich Medizin. Ich und einige Kommilitonen stellen Forschungen über den Blutkreislauf an. Einer hatte die Idee, dass wir uns eine viel genauere Vorstellung vom Kreislaufsystem machen könnten, wenn es uns gelänge, Blut in festes Metall zu verwandeln. Nun ist diese Karte …«
»Wer hat diese Idee gehabt?«
Von dieser Bemerkung überrumpelt, sagte Mondino ohne nachzudenken: »Mein Lehrmeister, Mondino de’ Liuzzi.«
»Mondino«, wiederholte Adia. »Der Schüler von Taddeo?«
»Genau der«, bestätigte der Arzt und konnte sein Erstaunen kaum verhehlen, dass dieser Frau sowohl sein Name als auch der von Taddeo Alderotti vertraut war. »Kennt Ihr ihn?«
»Nur dem Namen nach. Er ist ein Dummkopf.«
Mondinos Gesicht verfinsterte sich. »Mein Meister gilt als einer der besten lebenden Ärzte«, erwiderte er verkniffen.
Adia schien sich sehr beherrschen zu müssen, dass sie nicht laut lachte. Sie hob beschwichtigend beide Hände und sagte dann: »Ich streite seine Verdienste ja gar nicht ab. Ich habe sogar große Hochachtung vor Mondinos anatomischen Forschungen und warte mit Ungeduld auf die Abhandlung, an der er schreibt. Aber für mich bleibt er ein Dummkopf, weil er nur das Äußere betrachtet.«
»Ich kann Euch nicht folgen.«
Adia sah ihn mitleidig an. »Die Wissenschaft muss den Menschen entwickeln, so wie der Mensch die Wissenschaft entwickelt«, sagte sie dann, als ob damit alles erklärt wäre.
»Wie meint Ihr das? Erläutert mir das genauer.«
»Ich werde es in einfache Worte kleiden, damit Ihr es verstehen könnt«, erwiderte sie. Offensichtlich machte sie sich über ihn lustig. Auf einmal fühlte Mondino sich unbehaglich, als wäre er der Einzige, der einen Scherz nicht verstand. »Aber sagt mir zuerst noch eines: Warum hat Euer Lehrmeister Euch geschickt und ist nicht selbst gekommen?«
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