Schließlich wandte er sich wieder dem Franzosen zu. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass er ihn trotz seines Zustands hören oder verstehen konnte, sagte Mondino so ruhig und bestimmt wie möglich: »Wir müssen den Schädel aufbohren, damit der Eiter herausfließen kann. Es wird schmerzhaft sein, aber danach wird es Euch besser gehen.«
Hugues ließ nicht erkennen, ob er ihn verstanden hatte. Sein Blick war wieder gläsern geworden, und er wehrte sich nicht gegen Gerardo, der seinen Kopf festhielt. Als der Bohrer sich in den Knochen fraß, bäumte er sich auf und knurrte vor Schmerzen, dann verlor er das Bewusstsein, und sein Kopf sank auf die Brust, womit er Mondino die Arbeit erleichterte.
Der Arzt brachte vier dünne Kanäle an, führte den Spatel zwischen die Ränder des Bruchs ein und erweiterte den Spalt so weit, dass er einen Seidenstreifen einführen konnte, der sich unverzüglich mit Eiter vollsog. Er wiederholte diesen Schritt mehrmals mit einem sauberen Stoffstreifen, bis kein Eiter mehr zu sehen war. Die Kopfhaut hatte wieder zu bluten begonnen, aber nun war die Operation beendet. Mondino säuberte die Wunde sorgfältig mit einem Stück Leinen und bestrich sie mit einer Salbe aus Myrrhe und Kräutern.
»Ich habe mein Möglichstes getan«, sagte er schließlich. »Doch er ist schwer verletzt, ich weiß nicht, ob er sich wieder erholt.«
»Wollt Ihr sagen, dass er sterben könnte?«, fragte Gerardo.
»Das kommt darauf an. Wenn er hohes Fieber bekommt, wird er sich nicht wieder erholen. Sonst könnte er es schaffen, aber es ist noch zu früh, um zu sagen, ob er je wieder sprechen oder vernünftig denken kann.«
»Wie lange wird es dauern, bis wir das wissen?«
Mondino zuckte mit den Schultern. »Eine Stunde, einen Tag, eine Woche … Bei Verletzungen des Gehirns kann man nichts vorhersagen, das müsstest du eigentlich wissen, da ich erst vor ein paar Monaten darüber eine Vorlesung gehalten habe.«
Der junge Mann schaute ihn reuig an, und Mondino lächelte bitter. Es war erst neun Tage her, dass er Gerardos wahre Identität herausgefunden und sich darangemacht hatte, hinter das Geheimnis des Eisenherzens zum kommen - dennoch schien ihm die Zeit, in der er nur seine Vorlesungen gehalten hatte, so weit entfernt wie ein Traum, der beim Wachwerden immer mehr verblasste.
»Was sollen wir tun?«, fragte Gerardo erschöpft.
Mondino wandte sich ihm zu und betrachtete ihn genauer im Licht des anbrechenden Tages, der die Kerze auf der Truhe überflüssig machte. Der junge Mann war am Ende seiner Kräfte. Diese Nacht wäre er beinahe umgebracht worden, er hatte selbst jemanden getötet, hatte bei einem Verwundeten gewacht und noch kein Auge zugetan. Wie er selbst übrigens auch nicht.
Mondino hätte sich nichts Schöneres vorstellen können, als sich auf dem dreckigen Strohlager auszustrecken, das er im Nebenzimmer gesehen hatte, in einen erholsamen Schlaf zu versinken und zumindest für ein paar Stunden all jene Probleme zu vergessen, die auf ihn einstürmten.
Doch diese Zeit hatten sie nicht.
»Ich gehe und spreche mit dieser arabischen Kräuterhexe«, sagte er. »Sie wohnt auf dem Land, nicht weit von der Bova. Ich möchte sie bitten, die Worte auf der Karte zu übersetzen.« Er deutete auf Hugues, der immer noch bewusstlos ans Bett gefesselt dalag. »Ich traue den Worten deines Kommandanten nicht.«
»Ehemaligen Kommandanten«, erwiderte Gerardo. »Dass er diesen armen Jungen getötet hat, widersprach unserem Gelübde, und damit schulde ich ihm keinen Gehorsam mehr.«
Mondino nickte. »Du solltest weiterhin versuchen, diesen verkrüppelten Bettler zu finden«, sagte er. »Wenn er seinen Freunden erzählt hat, er würde bald reich sein, weiß er gewiss etwas. Aber zunächst möchte ich dich bitten, noch einmal zu Remigio Sensi zurückzukehren und dir die Namen von allen Tempelrittern geben zu lassen, die erst seit kurzem in der Stadt sind.«
»Warum?«
Mondino war erstaunt, dass er fragte. Gerardo begriff sonst sehr schnell, aber die Müdigkeit musste sein Intuitionsvermögen geschwächt haben.
»Falls die getöteten Templer wirklich in eine Falle gelockt wurden, könnte es sein, dass sie nicht nur zwei Leuten gilt.«
»Einer der Neuankömmlinge könnte das nächste Opfer sein«, schloss Gerardo.
»Sehr richtig. Wir müssen erfahren, wer sie sind und wie viele es sind. Und wir müssen sie warnen. Außerdem sollten wir versuchen herauszufinden, wer das nächste Opfer sein könnte und ihm heimlich folgen. Dabei kann ich dir nach meiner Rückkehr helfen, während du weiter nach dem Bettler suchst.«
»Das ist eine gute Idee«, sagte Gerardo. »Ich werde sofort aufbrechen.«
»Willst du vorher nicht ein wenig schlafen? Es ist noch früh, du kannst dich bis zur dritten Stunde ausruhen.«
»Lieber nicht. Wenn ich Zeit finde, werde ich am Nachmittag schlafen.« Er schaute zu Hugues de Narbonne, der vermutlich schlief; möglicherweise war er aber auch nur ohnmächtig. Oder stellte sich schlafend. »Was machen wir mit ihm?«
All die Bewunderung und der Respekt, die Gerardo in den letzten Tagen für seinen ehemaligen Kommandanten gezeigt hatte, waren aus seiner Stimme gewichen.
»Ich werde ihm einen schmerzstillenden Trank geben, damit er schläft«, antwortete Mondino. »Später kannst du nachsehen, wie es ihm geht, doch bitte warte bis zu meiner Rückkehr, ehe du ihn befragst. Einverstanden?«
»Einverstanden.«
Einem Mann mit einer Schädelverletzung ein Schlafmittel zu verabreichen, war sicher nicht die beste Therapie. Aber es war der einzige Weg sicherzugehen, dass er den ganzen Morgen über ruhiggestellt war und dass Gerardo, sollte er seiner Anordnung zuwiderhandeln wollen, nicht allein mit dem Verhör beginnen konnte. Mondino fürchtete, dass der junge Mann nicht die notwendige Unvoreingenommenheit besaß, um seinen Kommandanten zu zwingen, die ganze Wahrheit zu sagen oder herauszufinden, ob er log.
Sie gingen in die Küche. Gerardo zündete das Feuer aus der Glut des Vortags an, und Mondino mischte in einem tönernen Gefäß einen Trank aus Lavendel, Passionsblume und Baldrian. Als der Sud fertig war, flößten sie ihn Hugues ein, der in der Zwischenzeit die Augen geöffnet hatte, aber immer noch abwesend wirkte. Dann verabredeten sie, dass sie einander an der gleichen Stelle am Nachmittag irgendwann zwischen Sext und Non treffen würden, und verließen den Mann, der wie ein sitzender Gekreuzigter mit weit ausgebreiteten Armen und dem Kopf auf der Brust aussah.
Mondino lief sogleich Richtung Piazza Maggiore. Gerardo blieb zurück und schloss sorgfältig ab. Bevor er sich auf den Weg ins Trebbo dei Banchi machte, versteckte er noch den Schlüssel in einer Spalte im Holz unter dem Fenster.
Guido Arlotti beobachtete, wie der junge Mann den Schlüssel versteckte, und zögerte einen Moment. Der Inquisitor hatte ihm aufgetragen, Mondino wie ein zweiter Schatten zu folgen, aber er sollte auch herausfinden, wo sich der als Brandstifter gesuchte Student verbarg. Nun wusste er, dass dieser Student und der junge Mann, den Mondino immer mit Gerardo angesprochen hatte, ein und dieselbe Person waren. Wem der beiden sollte er also folgen?
Außerdem hätte er sich gern ein wenig in dem Haus umgesehen. Nach dem, was er auf seinem Lauschposten am Fenster mitbekommen hatte, musste dort etwas Ungewöhnliches vorgefallen sein.
Guido bereute, dass er aus reinem Geiz, weil er seinen Lohn mit niemandem teilen wollte, nicht ein paar Männer mitgenommen hatte. Wären seine Kumpane jetzt bei ihm gewesen, hätten sie sich die Aufgaben teilen und er von Uberto da Rimini das Doppelte verlangen können und nicht nur den Generalablass für all die Sünden, die er seit einem Jahr angehäuft hatte.
Guido war Mönch gewesen, er glaubte an die Hölle und die ewige Verdammnis. Aber er hatte seit langem akzeptiert, dass er zu schwach war, um seinen Leidenschaften zu widerstehen. Wenn er also Aufträge für mächtige Männer der Kirche erledigte, nutzte er die Gelegenheit und forderte Vergebung und den Erlass aller Sünden gegen milde Bußen. Einmal hatte er nur eine Nacht auf einem Lager aus Brennnesseln verbringen müssen, damit ihm ein Mord vergeben wurde, den er auf Anordnung desselben Prälaten begangen hatte, der ihm dann die Absolution erteilte. Guido war überzeugt, dass er ein Leben ganz nach seinem Belieben führen konnte, ohne dafür büßen zu müssen. Nur eine Vorstellung jagte ihm Angst ein, und zwar im Zustand der Todsünde zu sterben, ehe er Vergebung erlangen und rechtzeitig bereuen konnte. Doch im Augenblick erschien ihm der Tod sehr weit entfernt.
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