Erst da bemerkte Gerardo, dass die Geräusche hinter ihm von den Bettlern ausgingen, die gerade aus dem Gang kamen. Hugues lud die Armbrust. Vor Anstrengung biss er die Zähne zusammen. Endlich schoss er einen Pfeil ab, und der erste Bettler, der durch den Spalt im Boden kam, fiel mit einem Schrei nach hinten.
In dem eingestürzten Haus wurde es wieder still.
Gerardo eilte zu der Gestalt im Dunklen neben dem Eingang des Hauses zu. Das mit Rädern versehene Brett und die gelähmten Beine erkannte er sofort. Es war der verkrüppelte Junge, Bonaga. In seiner Schulter steckte ein Pfeil und ein zweiter in seinem Bauch. Er lebte zwar noch, aber es sprach nicht viel dafür, dass er durchkam. Der Kleine weinte und stöhnte unterdrückt, dabei hielt er die Schleuder immer noch fest in seiner Hand. Als er Gerardo sah, versuchte er krampfhaft, etwas zu sagen, aber Gerardo legte ihm den Finger auf die Lippen.
»Danke für deine Hilfe«, meinte er. »Keine Sorge, wir bringen dich von hier weg.«
Er holte den Karren aus der Dunkelheit und überlegte, ob er den Jungen bis zu Mondinos Haus auf den Armen tragen konnte, ohne dass ihn die Bettler einholten.
»Ich habe dich verraten«, stammelte Bonaga schließlich ganz leise. Er lächelte schwach. »Aber dann habe ich es bereut. Ich wusste doch nicht, dass sie dich töten wollten.«
Er wollte noch etwas hinzufügen, als sein Lächeln in einen Ausdruck des Entsetzens überging. Gerardo drehte sich ruckartig um, aber nicht schnell genug, um die Klinge aufzuhalten, die auf die Stirn des Jungen niederfuhr und ihm den Kopf spaltete wie eben noch dem Armbrustschützen.
»Nein, Kommandant!«, schrie er beinahe unter Tränen. »Er hat uns gerettet.«
»Und was hattest du vor, wolltest du ihn etwa lebend der Rotte überlassen, die sich hier gleich tummeln wird?«, erwiderte Hugues immer noch teilnahmslos. »Oder wolltest du ihn und seinen Karren auf der Flucht mitschleppen?«
Gerardo war entsetzt. Er betrachtete die Leiche des armen Jungen, der ihm für zehn Soldi das Versteck der Bettler gezeigt hatte, und fühlte, wie sich sein Herz zusammenkrampfte. Aus dem Schnitt, der die kastanienbraunen Haare teilte, quoll das Blut in Strömen hervor. Bonaga war auf der Stelle tot gewesen. Wäre er einfach still in seiner Ecke sitzen geblieben, hätte ihn niemand bemerkt. Stattdessen hatte er ihnen helfen wollen, war entdeckt worden und hatte dann dabei sein eigenes Leben durch einen der Menschen verloren, die er gerettet hatte.
Gerardo schüttelte den Kopf, unfähig, die eigenen Tränen zu unterdrücken. Einen Feind zu töten war eine Sache. Doch Freunde zu töten war Verrat. Und kein noch so geheimes Wissen konnte eine solche Tat rechtfertigen. Zum ersten Mal dachte er, dass es ein großer Fehler gewesen war, Hugues de Narbonne zu vertrauen.
»Der Junge wollte uns gerade etwas Wichtiges entdecken«, sagte er hart. »Er hat erklärt, dass er mich verraten hatte, aber dies bald bereute.«
Der Franzose schien Gerardos Worten keinerlei Bedeutung zuzumessen. »Jetzt ist es zu spät, um ihn zu fragen«, erklärte er zynisch. Als er Gerardos Gesichtsausdruck sah, fügte er hinzu: »Er war verloren, begreifst du das nicht? Ich habe nur seine Leiden verkürzt.« Er presste die Kiefer aufeinander, ließ das Schwert fallen und legte die Hände an den Kopf. Als er schwankte, stützte Gerardo ihn nicht. Hugues tastete unsicher nach seiner Schulter, als sähe er nicht gut. »Begleite mich nach Hause«, sagte er dann schnell. »Ich kann mich nicht mehr auf den Beinen halten, und die da« - er deutete auf den Spalt zwischen den Trümmern - »werden auf uns losstürmen, sobald sie begreifen, dass sie niemand mehr mit einer Armbrust bedroht.«
Mondino wurde wach und wusste zunächst nicht, woher das Geräusch kam. Dann begriff er, dass jemand an der rückwärtigen Tür zur Straße geklopft hatte, und beeilte sich, nachzusehen, wer das war. Er ging zur Küche hinaus und über den Hof. Ehe er öffnete, fragte er, wer da sei, aber im Grunde wusste er es bereits.
»Magister, ich bin’s, Gerardo. Macht bitte auf.«
Mondino öffnete die große Haustür. Die Straße lag still und verlassen da. Keine Glocke hatte bislang zu den Laudes geläutet, aber die Dunkelheit der Nacht wurde bereits heller. In diesem Dämmerlicht stand sein ehemaliger Schüler vor ihm: müde, mit zerzausten Haaren und geröteten Augen. Ein übler Geruch umgab ihn, als hätte er sich im Unrat gewälzt.
»Was gibt es?«, fragte Mondino finster. »Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«
»Meister, Ihr müsst mit mir kommen. Der Kommandant ist verletzt und fantasiert.«
»Verletzt? Wer war das?«
»Er hat sich den Kopf angestoßen.«
Mondino fragte nach, was passiert sei, doch Gerardo drängte ihn zur Eile und sagte, dass Hugues in einen tiefen Schlaf gefallen sei, aus dem er ihn nicht mehr aufwecken konnte.
»Mein Vater liegt im Sterben«, erwiderte der Arzt. »Ich werde doch nicht sein Lager verlassen, nur um diesen Franzosen zu behandeln.«
Gerardo seufzte. »Das verstehe ich, Magister. Aber im Fieberwahn hat der Kommandant etwas von Blut und Eisen erzählt. Und von einem Toten …«
Mondino musste sich an der Tür abstützen, während die Bedeutung dieser Worte zu seinem immer noch ein wenig schlaftrunkenen Verstand vordrang. »Willst du mir etwa sagen«, sagte er langsam, »dass Hugues de Narbonne der gesuchte Mörder ist?«
Gerardo machte eine Kopfbewegung, die die Frage weder bestätigte noch verneinte. »Genau das möchte ich wissen. Aber dafür müsste man ihn wachbekommen.«
Mondino ließ ihn auf der Straße vor der offenen Tür stehen. Er ging zurück ins Haus, begab sich nach oben in sein Zimmer, packte die Instrumente, die ihm möglicherweise nutzen könnten, in eine Tasche, nahm eine Salbe und einige Stücke Seide und Leinen, dann zog er sich um. Für ihr Vorhaben war es besser, wenn man ihn nicht erkannte. Er legte den Umhang und den roten Talar ab, schlüpfte in ein Paar grauer Beinlinge und Lederstiefeletten; über das Hemd zog er sich schließlich eine knielange, braune Tunika, die viel mehr Bewegungsfreiheit ließ als die beinahe bodenlangen Gewänder, die er für gewöhnlich trug.
Dann setzte er sich ein Barett aus leichtem Stoff auf, in demselben Grau wie die Beinlinge, schaute flüchtig in den Silberspiegel an der Wand und ging wieder in die Küche.
Gerade als er in den Hof hinaustreten wollte, bemerkte Mondino, dass jemand hinter ihm stand. Er drehte sich hastig um und sah Liuzzo in der Tür des großen Raums stehen, in Nachthemd und Schlafmütze und Filzpantoffeln an den Füßen. Er starrte ihn nur stumm an.
»Onkel, ich muss gehen. Ein Mann ist verletzt und braucht dringend meine Hilfe.«
»Dann werde ich gehen. Bleib bei deinem Vater. Heute könnte sein letzter Tag sein.«
Mondino spürte, wie dieser Satz ihn bedrückte. Liuzzo hatte Recht, und dennoch konnte er nicht gehen. Es stand zu viel auf dem Spiel: seine Freiheit und die seiner Familie. In diesem Moment hasste er seinen Onkel, der ihn so bedrängte.
»Ich muss gehen«, brachte er durch die zusammengepressten Zähne hervor. »Ich kann es Euch nicht erklären, aber …«
»Ich bin diese Dinge leid, die du nicht erklären kannst!«, rief Liuzzo aus, ohne die Türschwelle freizugeben. »Sag mir, was wichtiger sein kann, als deinem Vater in den letzten Stunden seines Lebens beizustehen, zum Teufel noch mal!«
Dieser Fluch aus dem Mund seines Onkels klang so unangemessen, dass es Mondino die Sprache verschlug. Er schüttelte langsam den Kopf und meinte dann: »Heute werde ich meine Vorlesung nicht halten können. Ich bitte Euch, mich zu ersetzen, Onkel.«
»Aber sicher werde ich dich ersetzen, mach dir keine Sorgen. Allerdings nicht nur heute, sondern für immer! Wenn du dieses Haus verlässt, ohne mir zu sagen, wohin und warum du gehst, sind wir geschiedene Leute!«
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