»Wann fängst du an, dich zu fürchten?« fragte ich, als er mich vor der Kantine absetzte.
»Später. Ich habe noch was zu erledigen.«
»Roy, du machst doch keinen Blödsinn, oder? Du siehst schon wieder so weggetreten aus.«
»Ich habe nachgedacht. Wann ist Arbuthnot gestorben?«
»Auf die Woche genau vor zwanzig Jahren. Ein Verkehrsunfall mit zwei Autos. Drei Tote. Arbuthnot und Sloane, der Finanzmanager seines Studios, plus Sloanes Frau. Tagelang stand nichts anderes in den Schlagzeilen sämtlicher Zeitungen. Die Beerdigung war größer als die von Valentino. Ich stand mit meinen Freunden draußen vor dem Friedhof. Blumen wie bei der Rosenparade an Neujahr. An die tausend Leute nahmen an der Totenmesse teil, und hinter den dunklen Brillengläsern liefen die Tränen. Ach Gott, es war furchtbar. Arbuthnot ist so beliebt gewesen.«
»Ein Autounfall, sagst du?«
»Keine Zeugen. Vielleicht hat der Hintermann nicht genug Abstand gehalten, hatte zuviel getrunken bei einer der Partys im Studio.«
»Kann sein.« Roy zupfte an seiner Unterlippe und blinzelte mir mit einem Auge zu. »Und, wenn mehr dahinter ist? Vielleicht hat jemand nach all den Jahren irgend etwas herausgekriegt, und jetzt droht er damit auszupacken. Warum sonst die Leiche auf der Mauer? Warum diese Panik? Warum wirbelt man so viel Staub auf, wenn es nichts zu verstecken gibt? Hast du ihre Stimmen vorhin gehört? Wie kann ein Toter, der nicht tot ist, eine Leiche, die keine Leiche ist, die Bosse so aufscheuchen?«
»Es müssen mehr Briefe existiert haben«, sagte ich.
»Der, den ich erhalten habe, und andere. Doch ich war der einzige, der dumm genug war, hinzugehen. Und als ich heute nichts verlauten ließ, nichts herumposaunt habe, mußte derjenige, der die Leiche auf die Mauer geschafft hat, schreiben oder anrufen, um die Panik auszulösen und einen Leichenwagen loszuschicken. Und der Bursche, der die Leiche gebastelt und die Nachricht verschickt hat, befindet sich in diesem Moment hier irgendwo und schaut sich den Spaß an. Warum … warum nur … warum …?«
»Reg dich ab«, sagte Roy lässig, »immer mit der Ruhe.« Er ließ den Motor an. »Wir werden diese verquaste Geschichte beim Mittagessen aufklären. Setz deine unschuldige Miene auf. Mach einen auf naiv, während du deine Louis-B.-Mayer-Bohnensuppe löffelst. Ich muß noch mal nach meinen Miniaturmodellen sehen. Eine einzige kleine Straße muß noch angenagelt werden.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »In zwei Stunden ist mein Dinosaurierland fertig für die ersten Aufnahmen. Dann fehlt uns nur noch unser wunderbares, phantastisches Monster.«
Ich schaute in Roys Gesicht, das noch immer brennendrot glühte.
»Du wirst doch nicht etwa die Leiche klauen und zurück auf die Mauer bringen, Roy?«
»Nichts läge mir ferner«, sagte Roy und fuhr davon.
11
In der Kantine, ungefähr in der Mitte der äußersten Reihe links, stand eine kleine Plattform, nicht höher als dreißig Zentimeter, auf der nur ein Tisch mit zwei Stühlen thronte. Ich stellte mir oft vor, daß dort ein Sklaventreiber einer römischen Kriegsgaleere saß und krachend erst den einen, dann den anderen Holzhammer niedersausen ließ, um den schwitzenden, an ihre Ruder geketteten Sklaven den Takt vorzugeben. Die Rudersklaven gehorchten dem Gesetz der Panik, ruderten auf einen Gang zwischen unendlich weit entfernten Kinositzreihen zu, verfolgt von durchgedrehten Marktschreiern und an Land von Horden beleidigter Kunden erwartet.
In Wahrheit saß dort natürlich kein römischer Sklaventreiber, der den Takt angab.
Es war Manny Leibers Tisch. Er brütete dort alleine vor sich hin, stocherte in seinem Essen wie in den von Cäsars Wahrsagern ausgebreiteten Innereien der Tauben herum, spießte die Milz mit der Gabel auf, ignorierte das Herz, blickte in die Zukunft. An manchen Tagen fläzte er dort mit seinem Studioarzt, Doktor Phillips, und die beiden versuchten unermüdlich, aus schnödem Leitungswasser neue Liebestränke und Zaubersäfte herauszufiltern. An anderen Tagen labte er sich an den Regisseuren und Filmautoren, die ihm geknickt gegenübersaßen und zustimmend nickten, ja, der Film sei terminlich im Verzug, sie würden das Tempo selbstverständlich beschleunigen!
Niemand wollte gerne an diesem Tisch sitzen. Oft lagen dort anstelle eines Schecks die Entlassungspapiere.
Als ich mich heute zur Tür hineindrückte und auf dem Weg zwischen den Tischreihen hindurch einige Zentimeter schrumpfte, war Mannys Empore leer. Ich blieb stehen. Es war das erste Mal, daß ich dort auf dem Tisch weder Geschirr noch Besteck noch Blumen sah. Manny war immer noch irgendwo dort draußen und schrie die Sonne an, weil sie ihn beleidigt hatte.
Doch auf mich wartete der längste Tisch in der Kantine, ein Tisch, der halb besetzt war und sich zunehmend füllte. An diesen Tisch hatte ich mich in den wenigen Wochen, die ich im Studio arbeitete, nie herangewagt. Wie die meisten Neulinge fürchtete ich mich davor, mit den furchtbar Klugen und den unglaublich Berühmten in Kontakt zu kommen. Als ich noch ein Kind war, hatte H. G. Wells in Los Angeles einen Vortrag gehalten, doch ich ging nicht hin, um mir ein Autogramm zu ergattern. Bei seinem Anblick wäre ich bestimmt vor Freude tot umgefallen. Genauso erging es mir mit dem Kantinentisch, an dem die besten Regisseure, Cutter und Autoren bei einem ewigwährenden letzten Abendmahl in Erwartung des sich verspätenden Christus beisammensaßen. Erneut verlor ich die Nerven, als ich meinen Blick schweifen ließ.
Ich schlich mich davon und steuerte auf eine weit entfernte, abseits gelegene Nische zu, in der Roy und ich des öfteren Sandwiches und Suppe in uns hineinschlangen.
»Nein, das werden Sie nicht tun!« tönte eine Stimme.
Ich zog den Kopf zwischen die Schultern, der Hals, vom Schweiß geschmiert, verschwand wie ein Periskop im Jackenkragen.
Fritz Wong rief: »Ihre Verabredung ist hier. Angetreten!«
Ich eierte zwischen den Tischen hindurch, stellte mich neben Fritz Wong und glotzte auf meine Schuhspitzen. Seine Hand auf meiner Schulter war drauf und dran, mir die Epauletten abzureißen.
»Hier ist unser Besucher von einem anderen Stern, jenseits der Kantine«, verkündete Fritz Wong. »Ich werde ihm seinen Platz zuweisen.«
Die Hände auf meinen Schultern drückten mich sanft nach unten.
Schließlich hob ich den Blick und schaute die Tafel hinab, in die Gesichter von zwölf Leuten, die mich interessiert betrachteten.
»Und nun«, verkündete Fritz Wong, »wird er uns von seiner Suche nach dem Monster erzählen!«
Das Monster.
Seit bekannt geworden war, daß Roy und ich das unglaublichste und schrecklichste Monster in der Geschichte Hollywoods erfinden und entwerfen sollten, hatten uns Tausende bei der Suche geholfen. Man hätte meinen können, wir suchten Scarlett O’Hara oder Anna Karenina. Aber nein … das Monster, und der sogenannte Wettbewerb zur Monstersuche, erschienen in Variety und im Hollywood Reporter. Mein Name und der von Roy standen in allen Artikeln. Jede noch so dämliche, unnütze Notiz schnitt ich aus und hob sie auf. Aus anderen Studios, von anderen Agenten und von Seiten der Öffentlichkeit wurden wir mit Fotos überschwemmt. Quasimodo Nummer zwei und drei zeigten sich am Studiotor, ebenso wie vier Phantome der Oper. Es wimmelte von Wolfsmenschen. Verwandte ersten und zweiten Grades von Bela Lugosi und Boris Karloff, die im Studio 13 aufgegriffen wurden, flogen in hohem Bogen raus.
Roy und ich kamen uns allmählich wie die Jury bei einem Schönheitswettbewerb vor, der von Atlantic City nach Transsilvanien verlegt worden war. Die Halbmenschen, die allabendlich vor dem Atelier warteten, waren schon ein Ding für sich; die Fotografien waren noch schlimmer. Schließlich verbrannten wir alle Bilder und verließen das Studio nur noch durch den Seitenausgang.
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