Meister: »Nun, da du die Regeln empfangen hast, möchtest du
sicher die Vinaya studieren, nicht wahr?«
Vinaya ist eine der Schriften Gautama Buddhas. Der komplette Name lautet Vinaya Pitak.
Seigen fragte also Sekito: »Nachdem du nun als Sannyasin angenommen bist, möchtest du sicher die Schrift namens Vinaya studieren?« Vinaya bedeutet Demut. Es handelt sich um eine der Schriften Buddhas.
Sekito antwortete: »Es ist nicht notwendig, die Vinaya zu
studieren.«
Es ist nicht notwendig, die Schriften zu studieren, denn die Wahrheit lässt sich niemals in irgendwelchen Schriften finden. Die Wahrheit ist keine Philosophie oder Theologie. Dafür besteht also keine Notwendigkeit.
Sekito war von seinem Meister Eno zu Seigen geschickt worden. Er war schon sehr weit fortgeschritten, doch weil Eno seinen eigenen Tod allzu schnell nahen fühlte – er war schon sehr alt –, so dass er vielleicht nicht mehr in der Lage sein würde, Sekitos Erleuchtung zu erleben, hatte er das Gefühl, dass es besser wäre, ihn zu einem anderen Meister zu schicken, der ihm bei den letzten Stufen seiner Entwicklung behilflich sein könnte. Also schickte er Sekito zu Seigen, der sein ganzes Leben lang sein Konkurrent gewesen war. Doch in ihrem Herzen erkannten sich beide gegenseitig als erleuchtet an.
Sekito war kein Anfänger. Als Seigen ihn daher fragte:
»Möchtest du nun die Schriften studieren?«, da antwortete er:
»Das ist nicht notwendig.«
Daraufhin fragte Seigen: »Möchtest du dann vielleicht das Buch Sheela lesen – das Buch vom Charakter? Wenn du die Schriften über Demut nicht studieren möchtest, möchtest du kann vielleicht die Schriften über Charakter und Moral kennen lernen?«
Sheela bedeutet Charakter.
Sekito antwortete – und das ist die Antwort eines Menschen, der der Erleuchtung bereits sehr nahe ist: »Es ist nicht notwendig, das Buch Sheela zu lesen, denn all diese Dinge folgen auf die Erleuchtung. Sie gehen ihr nicht voraus, sie folgen ihr.«
Die Erleuchtung beinhaltet enorme Schätze. Man wird erleuchtet, und alles andere folgt. Man muss nicht lernen oder studieren, man muss sich nicht disziplinieren, man muss sich nicht anstrengen. Alles fällt einem ganz spontan zu. Man muss einfach nur zuerst zum Buddha werden.
Sekito erwiderte also: »Es ist nicht notwendig, das Buch von Charakter und Moral zu lesen.«
Seigen fragte daraufhin: »Könntest du Nangaku Osho einen
Brief überbringen?«
Nangaku war ein weiterer berühmter Meister, und das war einfach nur eine Strategie Seigens, um herauszufinden, wo Sekito stand. All diese Fragen sollten nicht dazu dienen, bestimmte Antworten zu erhalten, sondern sie sollten es Seigen ermöglichen, diesen neu angekommenen Mann zu ergründen, der bei Eno, einem großen Meister, gelebt hatte –wie weit war er gekommen? Welche Tiefe hatte er erreicht? Er versuchte Sekito von allen Seiten zu ergründen, um sich ein Bild davon zu machen, wie reif Sekito war und wie viel weitere Reifung er noch benötigte. Das war also eine weitere Taktik. Seine Frage zur Schrift Vinaya hatte ihn nicht weitergebracht; Sekito hatte genau so geantwortet, als wäre er bereits erleuchtet. Er hatte ihn zur Schrift Sheela befragt, und Sekito hatte genau so geantwortet, als wäre er bereits erleuchtet.
Nun versuchte er es also auf eine andere Weise. Er fragte:
»Könntest du Nangaku Osho einen Brief überbringen?«
Nangaku lebte in einem Bergkloster ganz in der Nähe.
Sekito erwiderte: »Natürlich.«
Seigen sagte also: »Dann geh jetzt und komm bald wieder
zurück. Wenn du auch nur ein bisschen zu spät kommst, wirst du
mich nicht mehr antreffen. Und wenn du mich nicht antriffst,
wirst du das große Beil unter meinem Stuhl nicht bekommen.«
Bald darauf kam Sekito bei Nangaku an. Bevor er ihm den
Brief übergab, verneigte sich Sekito und fragte: »Osho, was ist zu
tun, wenn man weder den alten Weisen folgt noch seine eigene
innerste Seele zum Ausdruck bringt?«
Diese Frage ist sehr wichtig. Er fragt – mit dem größten Respekt:
»Osho, was ist zu tun, wenn man weder den alten Weisen folgt
noch seine eigene innerste Seele zum Ausdruck bringt?«
Nangaku antwortete: »Deine Frage ist zu arrogant.«
Damit meinte er, dass niemand sofort solch eine Frage stellen darf. Dieser Mann war in das Kloster gekommen und hatte sofort angefangen, ihm diese Frage zu stellen. Zuerst muss man initiiert werden. Zuerst muss man als Schüler angenommen werden. »Ich verschwende meine Zeit nicht mit irgendwelchen Leuten, die vorbeikommen und irgendwelche Fragen stellen. Das ist arrogant.«
Es war keine Arroganz, aber all das war Teil von Seigens Strategie. Nangaku war eine völlig andere Art von Meister.
Nangaku antwortete: »Deine Frage ist zu arrogant. Warum
stellst du sie nicht etwas bescheidener?« Worauf Sekito erwiderte:
»Da wäre es besser, auf ewig in der Hölle zu versinken und
nicht mehr auf die Befreiung zu hoffen, die die alten Weisen
erfahren haben.«
Was so viel bedeutet wie: »Wenn du meine Frage als arrogant bezeichnest, dann würde ich lieber auf ewig in der Hölle schmoren, als dir irgendeine Frage auf bescheidene Art und Weise zu stellen.«
Keine Frage ist jemals bescheiden. Jede Frage muss in gewisser Weise arrogant sein. Wenn man Fragen stellt, zeigt man Zweifel, stört man die Stille des Meisters. Offensichtlich sind alle Fragen arrogant, keine Frage kann bescheiden sein. Nur Stille ist bescheiden. Doch Stille ist keine Frage. Sie ist die Antwort.
Aber Sekito war ein Mann mit Rückgrat, ein Mann mit Mumm.
Er erwiderte also: »Vergiss meine Frage. Ich werde sie nicht bescheidener stellen, denn keine Frage kann man bescheiden stellen. Allein schon zu fragen ist arrogant. Jede Frage ist ein Zweifeln. Jede Frage stört das Energiefeld des Meisters.
Nur Stille kann bescheiden sein. Doch dann müsste ich nicht zu dir kommen. Still kann ich überall sein. Selbst im ewigen Höllenfeuer kann ich still sein.«
Sekito ist also ein Mann von großer Intelligenz und großem Mut. Nangaku kann ihn nicht niedermachen. Er war ganz speziell zu Nangaku geschickt worden, der dafür bekannt war, sehr streng zu sein. Seigen wollte wissen, wie Sekito reagieren würde, welche Antwort er Nangaku geben würde. Und er gab tatsächlich die richtige Antwort! Er sagte:
»Vergiss die Frage. Eher würde ich auf ewig in der Hölle schmoren, als dir eine bescheidene Frage zu stellen. Keine Frage kann bescheiden sein, wie man sie auch stellt. Und ich habe meine Frage sehr respektvoll gestellt. Ich habe dich Osho genannt, und du bezeichnest meine Frage als arrogant? Statt mir zu antworten, beleidigst du mich. Kein Meister beleidigt seine Schüler, und ich bin nicht einmal einer deiner Schüler. Ich bin einfach nur ein Fremder, und du bist nicht nett zu mir. Ich bin einfach nur ein Gast.
Du solltest mich willkommen heißen. Statt mich willkommen zu heißen, demütigst du mich. Ich werde dir also keine Frage stellen.«
Nachdem Sekito so festgestellt hatte, dass Nangaku und er
nicht auf einer Wellenlänge waren, ging er zurück zu Seigen,
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