Meine Leute sind am Ende ihrer Kraft, sie sind ganz einfach fertig.«
Hornblower sah, wie Hunter die französischen Matrosen mit einem Tauende zur Arbeit trieb und dabei rücksichtslos dreinschlug. Aber wie er auch tobte und schrie, aus diesen Menschen vermochte er auch mit Gewalt nichts mehr herauszuholen. In diesem Augenblick hob sich die Marie Galante schwerfällig auf den Kamm einer See und sackte gleich darauf in das folgende Wellental. Selbst der unerfahrene Hornblower mußte zu seinem Schrecken erkennen, wie träge und leblos sie sich dabei benahm. Er mußte sich sagen, daß das Schiff fast keinen Auftrieb mehr hatte und daher nicht mehr lange schwimmen konnte. Wollte man aber auf das Schlimmste gefaßt sein, dann gab es noch eine Menge zu tun.
»Matthews«, sagte er, »ich möchte sofort alle Vorbereitungen zum Verlassen des Schiffes getroffen haben.«
Bei diesen Worten drückte er das Kinn besonders energisch nach vorn, weil er auf keinen Fall wollte, daß ihm die Franzosen oder seine eigenen Leute anmerkten, wie verzweifelt er war.
»Aye, aye, Sir«, sagte Matthews.
Die Marie Galante fuhr ein Rettungsboot in Klampen hinter dem Großmast. Auf Matthews' Anordnung ließen die Männer jetzt ihre Arbeit in der Ladung liegen, um dieses Boot in aller Eile mit Proviant und Wasser auszurüsten. Dann bemannten sie die Bootstakel, heißten es aus den Klampen und fierten es in Lee des Achterdecks zu Wasser, wo sich leidlicher Schutz gegen Wind und Seegang bot. Die Marie Galante steckte ihre Nase in eine See, weil sie nicht mehr die Kraft besaß, sich auf ihren Kamm zu heben, grünes Wasser brach über ihren Steuerbord-Bug und strömte über das ganze Deck nach achtern, bis sich die Brigg plötzlich träge zur Seite wälzte und ihm den Weg nach den Speigatten wies. Man durfte nicht mehr viel Zeit verlieren - abermals gab ein besonders heftiges, dumpfes Krachen von unten her Kunde, daß die Ladung unbarmherzig weiterquoll und alle Widerstände sprengte. Unter den Franzosen brach eine richtige Panik aus, sie rannten mit lautem Geschrei achteraus und stürzten sich in wilder Flucht ins Boot. Der französische Kapitän maß Hornblower mit einem stummen Blick und folgte ihnen dann nach. Zwei der britischen Matrosen waren ebenfalls schon von Bord gegangen, um das Boot vom Schiff freizuhalten.
»Los, ins Boot«, sagte Hornblower zu Matthews und Carson, die noch zögerten.
Er war hier Kommandant und durfte daher sein Schiff nur als Letzter verlassen. Die Brigg lag jetzt schon so tief, daß es ein leichtes war, von Deck ins Boot zu gelangen. Die britischen Matrosen saßen sämtlich in der Achterpiek und machten ihm Platz.
»Nehmen Sie das Ruder, Matthews«, sagte Hornblower, weil er sich die Führung dieses überladenen Fahrzeugs doch nicht so recht zutraute. »Setz ab vorn!«
Das Boot hatte abgelegt, die Marie Galante wälzte sich mit festgelaschtem Ruder in der See. Sie drehte allmählich ihre Nase in den Wind und blieb dann unentwegt so liegen. Plötzlich zeigte sie so starke Schlagseite, daß die Steuerbord-Speigatten fast im Wasser verschwanden. Noch einmal rauschte eine See über ihr Deck und in das offene Ladeluk. Da richtete sie sich langsam auf und lag nun schon so tief, daß das Deck kaum noch aus dem Wasser ragte. Dann sank sie auf ebenem Kiel in die Tiefe. Die See schloß sich über ihrem Rumpf, allmählich verschwanden auch die Masten, nur die hellen Flecke der Segel schimmerten noch sekundenlang durch das klare Grün des Wassers.
»Sie ist weg«, sagte Matthews.
Hornblower hatte den Untergang seines ersten Schiffes mit brennenden Augen verfolgt. Ihm war die Marie Galante übergeben worden, daß er sie sicher in den Hafen brächte, und er hatte versagt, versagt bei seinem ersten selbständigen Auftrag. Er blickte starr in die untergehende Sonne und hoffte, daß niemand die aufsteigenden Tränen sah, deren er sich nicht erwehren konnte.
Als es über der wogenden Biskaya endlich wieder zu tagen begann, trieb inmitten der weiten Wasserwüste ein einsames, kleines Boot, und dieses Boot trug sicherlich mehr Menschen, als gut war. Vorn drängte sich die französische Besatzung der gesunkenen Marie Galante , mittschiffs saß der Kapitän und sein Steuermann, die Achterplicht war von dem Fähnrich Horatio Hornblower und seinen vier englischen Matrosen besetzt, die vordem die Prisenbesatzung der Brigg gebildet hatten.
Hornblower war seekrank. Sein empfindlicher Magen hatte ihm schon übel mitgespielt, bis er sich an die Bewegungen der Indefatigable gewöhnte, und rebellierte jetzt natürlich aufs neue, als das kleine Boot ruckend und stampfend hinter seinem Treibanker auf- und niedertanzte. Er war aber nicht nur seekrank, sondern auch hundemüde und durchgefroren, denn Schlaf hatte er auch in dieser zweiten Nacht nicht gefunden, weil er sich immer wieder krampfhaft übergeben mußte. Und in der bösen Depression, die die Seekrankheit immer mit sich bringt, machte er sich wegen des Verlustes der Marie Galante die schwersten Vorwürfe. Hätte er doch eher daran gedacht, dieses Schußloch zu dichten! Fiel ihm dazwischen etwas zu seiner Entlastung ein, so ließ er es nicht gelten. Waren der Aufgaben für seine paar Männer nicht allzu viele gewesen? Man mußte die Franzosen bewachen, die havarierte Takelage in Ordnung bringen, den Kurs absetzen! Den größten Streich hatte ihm der quellende Reis gespielt, als er daran dachte, die Bilge zu peilen, und kein Wasser fand. Das war alles gut und schön und sicher richtig, dennoch war am Ende nicht daran zu rütteln, daß er das Schiff, sein Schiff, das erste, das ihm anvertraut war, verloren hatte. Für diese Niederlage gab es keine Entschuldigung.
Die Franzosen waren bei Tagesgrauen munter geworden und schnatterten durcheinander wie eine Horde Spatzen. Matthews und Carson reckten ihre steifen Glieder, um den schmerzenden Gelenken Linderung zu verschaffen.
»Frühstück, Sir?« fragte Matthews.
Hornblower mußte an ein Spiel denken, das er als einsames, einziges Kind so gern gespielt hatte. Da saß er in einem leeren Schweinetrog, und der Trog war ein Boot und er saß ganz allein drin und trieb weit draußen auf See. Er hatte ein Stück Brot, oder was er sonst in der Küche ergattern konnte, säuberlich in zwölf Rationen geteilt, genau abgezählt, und jede Ration mußte für einen Tag langen. Aber der kleine Junge mit seinem unstillbaren Hunger hielt das Warten nicht lange aus, darum waren seine Tage sehr kurz, sie dauerten kaum fünf Minuten. Er war in seinem »Boot«, dem Schweinetrog, aufgestanden und hatte den Horizont vergebens nach Rettung abgesucht, hatte sich noch ein Weilchen das harte Dasein eines Schiffbrüchigen ausgemalt, dann hatte er kurzerhand beschlossen, daß wieder ein Tag und eine Nacht um war und daß er sich mit Fug und Recht die nächste Ration seines schwindenden Vorrats zu Gemüte führen durfte. Das Spiel des Knaben von einst war heute grausame Wirklichkeit. Hornblower sah, wie der französische Kapitän und sein Steuermann jedem Mann im Boot ein Stück Hartbrot reichten und dann allen der Reihe nach die Kumme aus den Fässern mit Wasser füllten. Aber trotz seiner lebhaften Phantasie hatte er sich damals in seinem Schweinetrog doch nicht alles richtig ausgemalt. Er hatte so wenig an die scheußliche Seekrankheit gedacht wie an die Kälte und die Krämpfe in den steifen Gliedern oder an die schrecklichen Schmerzen, die das arme Hinterteil auf den harten Duchten der Achterplicht zu erleiden hatte. Und am allerwenigsten hatte er natürlich in seiner kindlichen Selbstsicherheit geahnt, wie schwer die Last der Verantwortung schon den Siebzehnjährigen drücken konnte, wenn ihm ein selbständiges Kommando zufiel.
Er riß sich mit Gewalt von diesen noch so frischen Erinnerungen an seine Kindheit los, um sich wieder ganz den Aufgaben des Augenblicks zu widmen. Soviel ihm seine noch recht dürftige Erfahrung sagte, verhieß der graue Himmel fürs erste keine Verschlechterung des Wetters. Er näßte einen Finger und hielt ihn in die Höhe, dabei warf er zugleich einen Blick auf den Bootskompaß, um die Windrichtung zu bestimmen.
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