Matthews war ebenfalls herzugekommen. Obwohl er kein Wort Französisch verstand, hatte er die Geste des Kapitäns sofort richtig begriffen. »Habe ich recht gehört?« fragte er. »Das Schiff hat eine Reisladung an Bord?«
»Ja.«
»Dann wissen wir Bescheid. Der Reis hat Wasser gezogen, jetzt quillt er auf.«
Natürlich. Wenn man trockenen Reis in Wasser einweicht, dann quillt er alsbald auf das zwei- bis dreifache Volumen. Die Ladung quoll auch und sprengte die Nähte des Schiffes mit unwiderstehlicher Gewalt. Hornblower dachte wieder an das unnatürlich laute Krachen und Ächzen unter Deck. Er durchlebte einen der schmerzlichsten Momente seines Daseins, sein Blick schweifte über die kalte, erbarmungslose See hinaus, als ob er sich von dort Erleuchtung und Hilfe erwartete. Aber das Wunder blieb aus. Sekunden vergingen, ehe er wieder Worte fand und sich imstande fühlte, die Haltung zu wahren, die sich für einen Seeoffizier auch in den schlimmsten Lagen geziemte.
»Je eher wir das Lecksegel über das Schußloch bekommen, desto besser«, sagte er endlich. Es wäre wohl zuviel verlangt gewesen, hätte er sich jetzt auch noch um ruhige Gemessenheit bemühen sollen. »Machen Sie endlich diesen Franzosen Beine, daß sie fertig werden.«
Während er noch sprach, fühlte er plötzlich einen scharfen Ruck unter den Füßen, wie wenn jemand mit einem Hammer von unten gegen das Deck geschlagen hätte. Das Schiff platzte langsam aus den Nähten.
»Beeilt euch mit dem Segel!« schrie er auf die Arbeitsgruppe ein, dann ärgerte er sich über sich selbst, weil er mit seinem Gebrüll eine Aufregung verraten hatte, die eines Offiziers unwürdig war.
Endlich waren fünf Quadratfuß des Segels gefüttert. Nun wurden Leinen durch die Grummets geschoren, und die Arbeitsgruppe eilte nach vorn, um das Segel unter das Schiff zu bringen und es von dort bis zum Leck achteraus zu holen.
Hornblower warf seine Kleider ab, nicht etwa aus Rücksicht auf das Eigentum des Kapitäns, sondern um sie für den eigenen Gebrauch trocken zu halten.
»Ich gehe außenbords, um zu sehen, daß das Segel an die richtige Stelle kommt«, sagte er. »Matthews, einen Pahlstek.«
Nackt und naß hing er an der Bordwand, es schien ihm, als bliese der kalte Wind durch ihn hindurch; sooft das Schiff rollte, scheuerte er mit dem Körper an den Planken und verlor dabei ganze Fetzen Haut, jede am Schiff entlangrollende See schlug erbarmungslos mit lautem Klatschen über ihm zusammen. Aber er hielt aus, bis das gefütterte Segel genau vor dem Loch saß, und sah zu seiner größten Freude, daß sich die haarige Fläche sogleich richtig festsaugte. Sie zeigte nämlich über dem Leck eine Höhlung nach innen, die sich alsbald noch weiter vertiefte, so daß er sicher sein konnte, daß das Leck in der Bordwand nunmehr wirksam verstopft war. Auf seinen Zuruf holten sie ihn wieder an Deck und warteten auf seine Befehle, er aber stand nackt und ganz dumm vor Kälte und Müdigkeit vor ihnen und kämpfte um seinen nächsten Entschluß.
»Legen Sie das Schiff wieder auf Backbord-Bug«, brachte er endlich heraus.
Als er sich wieder angezogen hatte, erwartete ihn Matthews mit recht besorgter Miene. »Verzeihung, Sir«, sagte er, »aber die Geschichte will mir nicht mehr gefallen. Ganz ehrlich gesagt, sie gefällt mir gar nicht. So wie sich das Schiff jetzt benimmt, ich sage Ihnen, Sir, da stimmt etwas nicht. Es sackt schon immer tiefer und bricht uns zuletzt noch vollends auseinander. Für mich ist das eine ausgemachte Sache. Entschuldigen Sie, Sir, daß ich das so herausgesagt habe.«
Unter Deck hatte Hornblower zur Genüge gehört, wie der Rumpf des Schiffes unausgesetzt ächzte und stöhnte, hier an Deck klafften die Nähte immer weiter. Der quellende Reis hatte bestimmt auch die Nähte der Bordwand auseinandergetrieben, dann strömte jetzt immer noch Wasser ein, das die Ladung weiter aufquellen ließ, bis das Schiff vollends in Stücke ging.
»Schauen Sie, dort, Sir!« rief Matthews plötzlich.
Mitten am hellen Tag huschte ein kleiner grauer Schatten den Luv-Wassergang entlang, ein zweiter folgte und dann ein dritter.
Ratten! Eine Panik mußte sie aus ihrem Versteck unten im Raum vertrieben haben, sonst hätten sie sich niemals am hellen Tag an Deck gewagt. Wieder fühlte Hornblower einen schwachen Ruck unter den Füßen, der ihm verriet, daß unter ihm neuerdings etwas gebrochen war. Aber er hatte immer noch eine Karte auszuspielen, die letzte Verteidigungslinie war noch nicht bezogen.
»Ich will die Ladung werfen«, sagte Hornblower. Er hatte dieses Wort noch nie im Leben ausgesprochen, aber es war ihm von seiner Lektüre her geläufig. »Hol die Gefangenen heraus, wir wollen sofort damit beginnen.«
Die geschalkten Lukendeckel hatten sich schon seltsam und verräterisch nach oben gewölbt. Als jetzt die Keile herausgeschlagen wurden, riß sich das eine Ende einer Planke sofort krachend los und zeigte schräg nach oben, und während die Männer die übrigen Deckel abhoben, drängte gleich ein braunes Etwas nach; es war ein Sack Reis, der durch den Druck von unten emporgetrieben wurde, bis er in der Luke festsaß.
»An die Taljen! Hievt das Zeug heraus!« befahl Hornblower.
Sack um Sack wurde der Reis aus dem Laderaum geholt, manchmal platzte einer, dann ergoß sich der Reis in Strömen an Deck, aber das machte nichts aus. Eine zweite Gruppe schaffte Reis und Säcke nach Lee und hievte sie dort über die Reling in den unersättlichen Schlund der Tiefe. Schon nach den ersten drei Säcken begannen die Schwierigkeiten. Die Ladung war nämlich so ineinander verklemmt, daß es nur mit größtem Kraftaufwand gelang, so einen Sack aus seiner Lage zu wuchten. Zwei Mann mußten in die Ladeluke hinunter, um die Säcke loszubrechen und die Stroppen darumzulegen. Stunde um Stunde verging so bei härtester Arbeit, die Männer an den Taljen waren in Schweiß gebadet und wankten vor Müdigkeit, dennoch mußten sie von Zeit zu Zeit im Raum mit Hand anlegen, denn die Säcke hatten sich in ganzen Lagen verklemmt und saßen zwischen dem Schiffsboden unten und den Decksbalken oben unverrückbar fest. Als die Partie unter der Luke glücklich herausgehievt war, mußten schon die nächsten Säcke Lage um Lage mühsam herausgebrochen werden. Allmählich war im unmittelbaren Bereich der Luke doch etwas Raum geschaffen, so daß man endlich weiter in die Tiefe dringen konnte. Dort kam denn auch bald das längst Erwartete zum Vorschein. Die unteren Sacklagen waren naß geworden, ihr Inhalt war dadurch aufgequollen und hatte die Säcke gesprengt. Die ganze untere Hälfte des Laderaums war mit einer festgepreßten Masse feuchten Reises angefüllt, die man nur mit Schaufeln und Fässern herausbekommen konnte.
Hornblower war so in seine Probleme vertieft, daß er erst auf Matthews aufmerksam wurde, als ihm dieser am Ärmel zupfte.
Er merkte denn auch sogleich, daß ihn Matthews zu sprechen wünschte.
»Es hat keinen Zweck mehr, Sir«, sagte Matthews. »Wir liegen schon wieder ein ganzes Stück tiefer als vorhin. Ich meine, es wird nicht mehr lange dauern.«
Hornblower trat mit ihm an die Reling und sah an der Bordwand hinunter. Ja, der Mann hatte ohne Zweifel recht. Er selbst war ja außenbords gewesen und wußte noch recht gut, wo die Wasserlinie gewesen war. Noch besser war der Anhalt, den ihm die Oberkante des Lecksegels bot. Demnach lag die Brigg schon wieder einen guten halben Fuß tiefer im Wasser als zuvor - und das, obwohl man inzwischen mindestens fünfzig Tonnen Reis über Bord geworfen hatte. Das Schiff leckte offenbar wie ein Sieb, das Wasser drang durch die klaffenden Nähte herein, und der durstige Reis sog es sofort bis zum letzten Tropfen in sich auf. Hornblower fühlte, daß ihn die linke Hand schmerzte.
Erst als er hinsah, merkte er, daß ihm das Blut aus den Fingern gewichen war, weil er sich ganz unbewußt mit aller Kraft in die Reling krallte. Nun lockerte er seinen Griff, sein Blick suchte die Sonne, die sich schon zum Abend neigte, und wanderte über die wogende See. Er wollte sich um keinen Preis geschlagen geben, schon der Gedanke daran schien unerträglich. Jetzt trat der französische Kapitän an seine Seite. »Das ist doch heller Wahnsinn«, sagte er, »so geht es wirklich nicht weiter, Sir.
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