Die dunklen Gestalten fragen nicht, wer Anton ist. Sie akzeptieren ihn ohne Nachfrage. Er darf einen Schluck Bier nehmen und schnorrt sich Tabak und Papiere. Sie sitzen auf zwei Bänken, die sie nebeneinandergerückt haben. Andere stehen. Es wird kaum geredet, und wenn, dann geht es um Kneipen, in denen man noch anschreiben lassen kann, um Ärzte, die einem problemlos Benzos verschreiben, und um die Aufteilung der besten Stellen zum Flaschensammeln. Am Ende des Kanals steht das Marienhospital in der Dunkelheit, gerade so, als sei es für das alles hier in keinster Weise verantwortlich. Und wer wollte auch Gebäude beschimpfen. Der müsste doch verrückt sein.
Ella ist auch da, erkennt Anton jetzt. Da sitzt sie, leicht aufgequollen von den Medikamenten, eine Schizophrene, mit der er eine kleine, zarte Halbaffäre hatte. Wie viel schöner sie noch vor Monaten war, auch wenn das viele Rauchen schon die jungen Zähne angegriffen und knallbeige Nikotinmale in die Fingerspitzen gebrannt hatte. Und der Blick, der ihn nicht verstand, aber suchte, das vom Haldol ungelenke, langsame Gehen, die liebenswerte Grobschlächtigkeit. Eine Elfe eigentlich, nur hatte die Neuronenlotterie vorzeitig zugeschlagen, Sie haben sechs Richtige, Gratulation, aber nicht, wie Sie es sich jetzt vielleicht wünschen, nein, wo denken Sie hin. Sechs richtige Psychosen sind es, die Sie in drei falschen Jahren ereilt haben und die ihr Leben jetzt verstellt und verunmöglicht haben. Und das mit einundzwanzig Jahren. Anton setzt sich zu ihr.
«Hey. Erkennst du mich?»
Ihr Blick, das Irrlichtern darin. Aber ja, sie erkennt ihn.
«Hey. Wie geht’s?»
«Besser, und dir?»
«Auch.»
Der Kanal plätschert und stinkt hoch. Enten treiben im Schlaf herum, und Schwäne und Müll und Dreck.
«Wo wohnst du jetzt?»
«In der alten WG.»
«Neuer Betreuer?»
«Leider nicht. Und du?»
«Morgenrot-Stift.»
«Kenne ich nicht.»
«Bin ich auch bald wieder raus.»
«Und dann?»
«Weiß noch nicht.»
Sie lächelt ihn an. Die Säufer, Junkies und Absteiger um sie herum scheinen nur noch dezent zu flüstern, als wollten sie nicht stören. Dennoch will Anton alleine mit ihr sein.
«Gehen wir eine Runde?»
«Sehr gerne.»
Anton ignoriert, wie ihn dieses «Sehr gerne» befremdet. Es ist der neue Ton der Kellner und Kassiererinnen, die dem Kunden damit en passant das Maul stopfen wollen, mit dem amerikanischen Konsens einer Freundlichkeit, die nichts bedeutet außer Gleichgültigkeit und Verachtung. Und jetzt sickert dieses nichtige Etwas von «Sehr gerne» längst schon in die Alltagssprache hinein, und weiter, nach ganz unten, zu den Schizophrenen und Psychotikern, den Ausgetickten und Abgehängten. Fixierung vielleicht? Gerne. Streichung der Beiträge? Oh, gerne. Vergewaltigung gefällig? Sehr gerne.
Getupfte Lichtreflexe auf dem Kanal, die hohen Mietshäuser dahinter, wo die Fernseher noch flackern, das Knirschen unter ihren Füßen: Alles ist heruntergedimmt. Und auch sie reden leise, vorsichtig, mit einem verschwörerischen Unterton. Seine Hand hat sich auf ihr Gesäß verirrt, so soll es jedenfalls scheinen, wie eine zufällige Verirrung, dabei konzentriert sich Antons Wahrnehmung ganz auf diese Hand, in ihr steckt seine Absicht. Oben redet er ziellos daher, unten fädelt er den nächsten Vorstoß ein. Die Themenlosigkeit ihres Gesprächs steht der gegenseitigen Anziehung nicht im Wege, ganz im Gegenteil. Er weiß nicht, wie weit es gehen wird, aber gleich werden sie sich näher und noch näher kommen. Er genießt den Augenblick davor und dehnt ihn ein wenig. Oft ist die Vorfreude auf Sex ja viel besser als der wirklich stattfindende Sex danach. So jedenfalls seine Erfahrung.
Anton verlangsamt den Schritt. Ella lässt sich darauf ein. Ihre Blicke finden sich in der Dunkelheit. Der Halbmond ihres Gesichts ist ihm zugewandt, auch wenn er merkt, dass Ellas Präsenz so fahrig und unbestimmt ist, dass sie die Zuneigung eher spielt als fühlt, oder eigentlich: dass sie ihr passiert . Er ist offensichtlich nicht gemeint, aber das stört ihn nicht. Sie bleiben stehen. Soll er sich ihr langsam oder schnell nähern, verführerisch oder überrumpelnd? Nicht nachdenken, machen. Schon ist er da, wo er hinwollte. Der Kuss fühlt sich wie ein Bühnenkuss an, aber er hat seinen Reiz, und Ella öffnet sich ihm total. Es gibt keinen Widerstand. Er kneift durchs Hemd in ihre Nippel, küsst sie noch inniger, deutet dann auf ein Gebüsch am Ufer und sagt: «Komm.»
Weiß Ella, was sie tut, als sie Antons Hose öffnet? Das ungute Gefühl, das Anton beschleicht, verschwindet bald wieder. Er beruhigt sich. Sie will es schließlich auch. Oder? Wie verhält sich das genau? Vergeht er sich vielleicht gerade an einer seelisch Behinderten? Und wennschon, er ist doch selbst ein solcher, ein seelisch Behinderter, wie sie sagen! Sie benutzen einfach einander . Er öffnet ihre Hose, zieht sie zusammen mit dem Slip herunter, fingert Ella sachte, während er sie küsst. Dann fingert er sie heftiger, und sie beißt sich auf die Lippen, wie nach Protokoll. Bald ist sie nass genug. Er dreht sie um, beugt sie hinunter und nimmt sie im Stehen von hinten. Der Kanal liegt dunkel vor ihnen, darauf die Tiere, die schlafen. Am Ende kommt er ihr ins Gesicht, hat deshalb sofort ein schlechtes Gewissen und tupft sie, noch ganz außer Atem, mit dem Ärmel seines Pullovers sauber.
Sie setzen sich auf die nächste Bank und halten lustlos Händchen. Die übliche postkoitale Nüchternheit hat von Anton Besitz ergriffen, sie geht immer auch mit etwas Scham einher, Relikte des kindlichen Katholizismus, dem er von allen Seiten ausgesetzt war. Sie drehen sich Zigaretten und rauchen. Ob alles okay bei ihr sei, fragt Anton Ella, und sie bejaht. Dabei überschlägt sich ihre dumpfe Stimme leicht, mit einem Ausreißer ins Hysterische, als sei sie eine minderbemittelte Idiotin, was sie, wie Anton wieder einfällt, trotz aller Schönheit ja auch ist. Er wird sich seines eigenen idiotischen Tuns bewusst wie im Schock und will plötzlich nur noch gehen. Aber vielleicht kann er ja einen kleinen Vorteil aus diesem würdelosen Vergehen ziehen, vielleicht einen Schein, vielleicht eine Münze, wo er sich doch eh schon moralisch besudelt, ohne dass es auch nur ein Mensch mitbekommt.
«Du, ich muss wieder. Ich muss noch ins Heim. Anwesenheitspflicht.»
«Echt?»
«Ja, hart, was?»
«Mhm.»
«Sollen wir uns morgen wiedersehen? Ich würde mich freuen.»
«Vielleicht.»
«Vielleicht ist gut, ich weiß auch noch nicht genau. Wieder hier?»
«Ja. Vielleicht.»
«Sag, kannst du mir, vielleicht , bis morgen etwas Geld leihen? Ich hab keine Zigaretten mehr. Null.»
«Weiß nicht. Nein.»
«Ach, komm, Ella.»
«Nein. Glaubst du, ich bin blöd?»
«Nein, natürlich nicht, aber —»
«Natürlich glaubst du das.»
«Nein!»
«Verpiss dich. Ich weiß nicht einmal mehr deinen Namen. Du bist nichts für mich. Hau einfach ab.»
«Aber —»
«Ja?»
«Nichts.»
In seiner Absicht entblößt, bespuckt und geächtet, macht sich Anton von dannen, schleicht wieder aus Ellas Leben hinaus, schnell zur Brücke, durch das gelbe Laternenlicht in die andere Dunkelheit und weg. Scheiße , denkt er, sie hat ihn und seine niederen Absichten gleich erkannt und bloßgestellt, und sie hatte nicht einmal unrecht damit. Schnell vergessen, das Ganze, bitte vergessen. Wie soll die Weste auch fleckenlos bleiben, wenn der ganze Mensch im Dreck versinkt.
Anton stiefelt das andere Ufer weiter hinauf, tiefer in die Einsamkeit, greift sich wieder sein Handy und versucht, Denise anzurufen. Freundlich wird er aufgefordert, Guthaben zu kaufen. Natürlich, das hatte er vor lauter Scham ganz vergessen. Fick dich, Handy, denkt er, nein, sagt er. «Fickt euch alle zu Tode!», ruft er in die Nacht. Er schleudert das Handy in Richtung Brücke, wo es in tausend Teile zerschellen soll, trifft die Brücke aber nicht, sodass das Handy einfach ins Wasser fällt und dabei kaum einen Laut macht.
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