Er scheint ihn nicht einmal zu erkennen. Anton packt verlegen seine Sachen zusammen und fragt leise: «Wie ist es denn dann gemeint.»
«Gerade gestern», holt Stephan aus, «hat mir einer von Ihnen dazwischengeredet und wollte gar nicht mehr aufhören. Das stört einfach den Ablauf hier.»
Anton steht auf und schlurft in Richtung Tür. Keiner der Studenten regt sich.
«Seien Sie mir nicht böse», sagt Stephan, «aber dies ist vielleicht nicht das passende Forum für Sie.»
«Wer soll das denn sein, einer von Ihnen », sagt Anton leise beim Hinausgehen. «Wer soll das denn sein.»
Als er die Tür hinter sich schließt, lauscht er kurz der Stille hinterher und starrt seine Hände an. Das grelle Licht lässt sie fahl und faltig erscheinen. Nichts passiert. Dann erhebt Professor Stephan hinter der Tür wieder die Stimme, flach und betonungslos, ohne die Störung weiter zu thematisieren.
Agitiert streift Anton durch die Gänge. Tränen sind nicht erlaubt, auch wenn er spürt, dass es ihm den Hals zuzieht. Die Verletzung ist vollbracht. Er versucht, mehr empört als gedemütigt zu sein, sich aufzuregen anstatt loszuweinen. Es gelingt. War ich nicht ein vielversprechender Student einstmals, denkt er, und jetzt, was ist davon übrig geblieben! Dieses senile Arschloch von einem Rechtsschnösel! Kann nichts, will nichts, verwaltet nur sein kleines Leben!
In seiner Tüte hat Anton noch ein paar CDs mit seinen Songs. Die schenk ich euch, denkt er, ihr könnt mein Vermächtnis haben, und betritt mit ausgreifenden Schritten die juristische Bibliothek. Bevor ihn irgendwer aufhalten kann, ist er schon an der Aufsicht vorbei und in einem der vielen gleichförmigen Gänge. Ihm fällt eine Lücke zwischen zwei scharlachroten Bänden auf. In diese stopft er wutentbrannt die zehn, fünfzehn CDs hinein und weiß gleichzeitig, dass das hier alles überhaupt keinen Sinn ergibt. Vielleicht sollte er lieber ein paar juristische Fachbücher klauen, um sie auf dem Schwarzmarkt, der sicherlich existiert, zu verschachern und so wieder liquide zu werden. Vielleicht gibt es hier Werke, die mehr als dreitausend Euro wert sind? Er blickt sich um, alles ist neu sortiert, keine Folianten weit und breit. Gerade, als ihm wieder einfällt, wo die historischen Dokumente ausgestellt sind, kommen zwei Hilfskräfte um die Ecke, gehen bestimmten Schritts auf ihn zu und fordern ihn diskret auf, bitte mitzukommen, je eine Hand an je einem Ellenbogen. Anton leistet keinen Widerstand. Er hält das Kinn oben, während sie ihn abführen, so höflich, wie es nur geht.
Langsam wird es dunkel. Anton hat die Vorfälle fast wieder verdrängt. Von so einem Geschnösel lässt er sich jedenfalls nicht mehr beeindrucken. In der Dämmerung verfolgt er einzelne Leute in der Gegend um den Campus, die ihm wohlhabend erscheinen, und überlegt, wie er sie, ohne großen Schaden anzurichten, ausrauben könnte. Doch es ist nur ein hypothetischer Plan. Dreitausend Euro wird eh niemand einfach so bei sich haben. Und doch tut es ihm gut, diese Leute mit gebührendem Abstand zu verfolgen. Es lässt ihm die Illusion von Alternativen, die er aus moralischen Gründen ausschlägt, obwohl sie doch zum Greifen nahe sind. Es ginge auch anders, aber er bleibt integer.
Dreitausend Euro. Aus der Portokasse, nur ein Obolus, bloßes Taschengeld, begleichen Sie es schnell, machen Sie nicht viele Worte, sind nur Peanuts. Eine enorme Menge Peanuts allerdings, verhindern Leben, sind nicht zu stemmen, nicht zusammenzukratzen, dreitausend Euro, woher nehmen, wenn nicht stehlen. Von nichts kommt nichts, mein Freund, dreitausend Euro, einfach ausgegeben, schwer wieder einzunehmen, stehst vor dem Kadi, hebst die Hand, wirst schnell durchleuchtet, nichts zu holen, nichts zu sein. Dreitausend Euro, dieser Mann da, seine Frau dort, ihr habt es doch reichlich, gebt mir was ab. Bezahlt es schnell, es bleibt nichts übrig, das letzte Hemd hat keine Taschen. Dreitausend Euro, sein Anteil, mein Urteil, mehr nicht.
Morgen früh ist der Termin. Anton fährt schwarz mit der U-Bahn, die Leute begaffen ihn nicht mehr, oder er merkt es nicht. Er dämmert so dahin auf den harten Polstern, steigt um, wartet, steigt ein, hat das ganze Abteil nur für sich. Kurz ist er Herr über staatliches Eigentum, sonst ist es immer umgekehrt. Er begibt sich schon einmal in die Nähe des Amtsgerichts. Falls er verschläft, muss er sich dann nicht hetzen. Die Gegend um das Gericht ist höherpreisig, aber zu weit außerhalb, um Szenebezirk zu sein, dennoch kann er die Immobilienmakler förmlich riechen. Auf einer Parkbank macht er es sich bequem, nimmt seine Jacke als Kissen und legt sich auf den Rücken. Die erste Kälte kommt, das ist zu spüren. Die Planken drücken sich in sein Kreuz. Der Himmel über ihm gähnt so gegenständlich und unbeteiligt wie nie. Das All da oben, es hat hier nichts verloren.
Im Namen des Volkes.
Das Gebäude strahlt eine große Ruhe aus, eine Unerschütterlichkeit, eine schon provokante Selbstgewissheit. Die Torbögen über der gusseisernen Tür beugen sich dem Davorstehenden schwer und massiv entgegen. Eine Kirche des Rechts empfängt Gläubige und Gläubiger.
Anton steht davor, bestaunt das ewig Amtliche, Zeitlose des Gebäudes, steht dabei mitten in der Zeit, die abläuft, und wartet. Er hat kaum geschlafen, in dieser Nacht der Nächte, aber nicht aus Nervosität, sondern allein wegen der unbequemen Lage, dort auf der Bank. Er ist dreimal aufgestanden und hat sich die Beine vertreten. Kaum ein Fenster im Viertel war erleuchtet. Dann hat er sich wieder hingelegt, hat gedämmert, getrauert, gelächelt, gewartet. Die Zeit verging, wie sie immer vergeht, schneller als am Tag zuvor, rasend im Vergleich zum vergangenen Jahr, immer durch die Schneise des gegenwärtigen Augenblicks gedrängt und gestaucht, durch ein Nichts namens Jetzt. Am Ende schnurrte die Erinnerung zu einem Strobolicht zusammen. Anton fror nicht.
Verwirrt steht er da. Die Beamten und Angestellten sind eigentlich nicht von den Klägern und Angeklagten zu unterscheiden. Obwohl, dort steht ein alter Punker, dem der Punk nur noch traurig in den Runzeln und Haaren klebt. Der wird wohl kein Richter sein. Er redet nervös auf seinen, wahrscheinlich, Anwalt ein. Sicher geht es auch um Geld. Oder um eine Strafe. Oder um Geld als Strafe. Eine Strafe, weil Geld fehlt. Geld als Strafe für das Fehlen von Geld.
Anton atmet die Luft ein. So, wie er sie jetzt atmet, wird er sie nie wieder atmen. Ihr Geschmack wird anders sein nach der Verhandlung, das ist gewiss. Vielleicht auch ihre Dichte. Vielleicht wird sie dünner sein, vielleicht dicker, vielleicht aber auch, wer wagte, es zu denken, frisch und neu und kristallin. Anton schnorrt einem Rauchenden eine Zigarette ab und bedankt sich mit leichter Verbeugung. Zigaretten schmecken immer, und immer fast gleich, im Gegensatz zur Luft, und wenn man aus dem Mund stinkt, kann man durch eine Zigarette immerhin bestimmen, wonach.
Hermann und Cathrin kommen um die Ecke, gestriegelt und herausgeputzt, sie im Kostüm, er im Anzug und mit Krawatte, in den Aktentaschen tragen sie die Gesetze. So sieht es jedenfalls aus. Und wer die Gesetze mit sich trägt, der strahlt Selbstbewusstsein aus und hat das Recht auf seiner Seite. Sie begrüßen sich zaghaft, Anton will nicht aufdringlich sein, er weiß um sein Aussehen, seinen Geruch.
«Wo zum Teufel warst du!», ruft Hermann. «Wir haben versucht, dich zu erreichen. Wie vom Erdboden verschluckt.»
«Hab mein Handy verloren», nickt Anton.
«Wir haben es überall versucht, alle Freunde, alle Anlaufstellen», sagt Hermann, «nichts.»
«Dann müssen wir das eben jetzt und hier schnell bereden», sagt Cathrin in einer Umarmung, die Anton überrascht. Ihr Parfüm bleibt in seiner Kleidung hängen.
«Genau», sagt Hermann. «Also, noch mal zusammengefasst. Es ist leider höchst wahrscheinlich, dass das Gutachten nicht reichen wird. Es wird auch keinen Vergleich geben, wie es aussieht. Ich habe die Akten heute Morgen noch einmal studiert.»
Читать дальше