SECHSTER TEIL FILME ALLER FERTIGKEITEN
Left Lancelot
Out of the picture credit
… And You Will Know Us By The Trail Of Dead
Sich alte Diktiergerät-Tapes anzuhören hat etwas von Palimpsest-Forschung. Alle Aufnahmen tummeln sich zusammengedrängt auf einer Kassette, lappen übereinander und schneiden sich gegenseitig das Wort ab; Disparatestes steht unverbunden nebeneinander, verschiedenste Themen kreuzen sich und ergeben komische bis unheimliche Kombinationen; die Zeit titscht hektisch durch ihre eigene Kugelform und wird seekrank dabei. Man findet nie, was man sucht, hat keinen Hinweis darauf, wo es sich verstecken könnte oder wie viele Schichten schon darüberliegen.
Dazu gibt es Unterschiede im Tempo. Manches ist in High Speed , manches mit normaler Geschwindigkeit aufgenommen, und teils mit verschieden kräftigen Batterien, sodass nichts mehr synchron und alles verzerrt ist. Der Rest eines Zeitungsinterviews etwa lässt zwei müde Monster einen bis zur Unverständlichkeit zähen Dialog über Margen, Marken und Management führen, es hört sich mehr nach einer Mischung aus Schnarchen und Rülpsen als nach Sprechen an; und kurz bevor die Monster vollends wegnicken, schneidet ihnen unvermittelt eine hysterische Mickymaus das Wort ab, atmet wie blöd und wirft im Sekundentakt mit depressiv-sinnlosen Halbsätzen um sich («das Krasse — macht keinen Unterschied mehr — kann nicht tot — ist kaputt — Tickertod»), bis sie nach einer Menge kränklich hingehechelter Reflexionen von einem jungen Mann unterbrochen wird, der in fast normaler Geschwindigkeit über sein Leben zu sprechen beginnt, nein, er spricht schon länger, er hat schon länger darüber gesprochen, wir waren nur noch nicht dabei.
«Diese Reise — wieso Reise? — wann begann sie? Wichtiger noch: Ist sie überhaupt vorbei? Teilt sie sich auf in Stationen, in Abkürzungen und Umwege?» Klick. «Manche bezweifeln die schiere Existenz von Umwegen. Jeder Weg habe seine Berechtigung.»
Klick.
Klick. «Wie also wird einer verrückt? Wo kommt er her, der Wahn, der jeden treffen kann? Ist es wahr, dass ein Schizophrener sich fühlt wie gespalten ? Wie hoch werfen die Wellen der Zyklothymie den Zyklothymen? Und wie tief fällt er, in welchen Abständen? Wenn du mir diese Fragen stellst (und ich habe genügend Grund anzunehmen, dass du sie mir stellst, mein Freund), machst du das wohl, weil du glaubst, ich sei Experte in diesen Sachen. Und in gewisser Weise hast du ja auch recht. Aber du musst auch wissen: Viele Dinge weiß ich gar nicht mehr. Ich habe sie vergessen. Ganz normal vergessen, rede ich mir ein. Ganz schlicht.» Klick.
«Ich muss schon tief hinuntersteigen, um in meinem Bewusstsein nach Gründen und Ursachen zu fischen, die eine entsprechende Disposition hätten bedingen können, und um präzise Situationen zu benennen, die dieser Disposition auch ein konkretes Bild, eine Art Prolepse nachlieferten, erste Ausbrüche einer fehlgeleiteten Aggression etwa oder auch Zustände der größten Entfremdung — Entfremdung vor sich selber oder vor den anderen, was (auch hier könnte eine Analyse ansetzen) keinen großen Unterschied macht. Aber ist es das, wonach du fragst?»
Klick. «In diesem Fall könntest du auch gleich zu einem Arzt gehen oder einige der einschlägigen Sachbücher lesen. Mal sehen, wie schlau du danach bist. Mal sehen, ob Fallstudien dir weiterhelfen. Fallstudien sind wie Protokolle von Zirkusauftritten gesichtsloser Artisten, mit genau derselben (unmöglichen und unnötigen) Schreibhaltung, aus genau derselben Perspektive des wohlgeneigten Zuschauers (das bist du) und des Vermittlers (das ist der Arzt), der das Charakteristische der Situation (das war ich) außen vor lassen muss, weil es sich nicht einfangen lässt, jedenfalls nicht als eine Abfolge von Ereignissen im Ursache-Wirkungs-Schema, die aufgenommen und kategorisiert werden will wie eine bestimmte Kollisionsreihe beim Billard oder eine Partie Schach. Fallstudien werden dich nicht jenseits der Grenze führen, auf deren hiesiger Seite du nur staunst und gaffst wie ein Zoobesucher vor dem Zaun, jenseits derer du aber wirklich beginnst, mit dem Tier zu kämpfen —»
Klick. «Zumal die Medizin mehr tastet als feststellt, mehr vermutet als begreift. Mir wurden nach monatelangem Aufenthalt in der geschlossenen Abteilung der Charité zum Abschied lediglich zwei fotokopierte Medizinbuchseiten mitgegeben, begleitet von der hingenuschelten Bemerkung, ich hätte so etwas wie eine Kreuzung oder Mischung dieser beiden Krankheitsbilder gehabt, Zyklothymie und Schizophrenie , und das war dann das. Stoffwechsel. Neuronen. Botenstoffe. Klick.»
Klick.
Klick. «Ich werde einmal eine Ästhetik des Fehlers schreiben. Nicht des Hässlichen, nicht des Ekligen, nicht des Trashs oder der Wunde. Nein, des Fehlers. Ja. In seiner leichten oder schweren Abweichung, in seiner negativen Abgegrenztheit, an der sich das Verfehlte, nicht Erreichte genau ablesen lässt, ob als leise Utopie oder als faktischer Terror, aus dem man sich in den Fehler als letzte Zuflucht geflüchtet hat. Klick. Seine vielfältigen Formen will ich beschreiben, Nomenklatur: den schleichenden, den sofortigen, den produktiven, den inhaltlichen, den formalen, den tödlichen Fehler; den allem zugrunde liegenden Fehler, den Lebensfehler, das Fehlerfenster, die Fehlerphantasie. Was für eine Freiheit der Fehler auslösen, welche Kraft er freisetzen kann, wo er neue Orte öffnet. Und, natürlich auch, wie normal schrecklich der Fehler trotz allem ist, was für verheerende Folgen er zeitigt, Leben ruiniert. Und dann werde ich mir die Microsoftstrategie zu eigen und mit meinen zahlreichen Fehlern Kohle machen, indem ich den dysfunktionalen Roman schreibe. Und er wird ‹0½› heißen. Ich freue mich so.»
Klick. «Skizze der Gründe: Im schwarzen Grund. Bier im Park, danach Koks auf der Eichel. Lachen als Abgrund: Ha ha ha.»
Klick. «Ihm war die Welt der Fiktion nämlich wirklich zur Wahrheit geworden. Er wusste nicht mehr, was Metapher war, was konkret. Die Wirklichkeit oder die Fiktion? Dann war entweder alles eine Metapher, oder nichts eine Metapher. Und er, also ich, war jede Person und jedes Ding, egal ob real oder erfunden. Und Gott war ein Metaphernsturm, und Magnus dessen Bedeutung, seit soundsoviel Jahren.»
Klick. «Während andere Verletzungen und Erkrankungen dem Ich erst einmal äußerlich bleiben (sie es, das Ich, freilich über Umwege, über die große Lebensattacke etwa angreifen können, oder auch durch die bloße Verstopfung der Atemwege (manche sagen Schnupfen), die den Kopf ein bisschen rammdösig macht, et cetera, et cetera), ist die eigene Person bei psychischen Krankheiten sofort betroffen und befallen, nein, sie ist das Zentrum der Krankheit. Das ist es, was es für die anderen so unheimlich macht. Es ist das Gegenüber selbst, das erkrankt ist. Das ist unheimlich.» Klick. Klick.
Klick. «Für einen selbst ist es nicht unheimlich, sondern absolut unbegreiflich, zunächst. Die Krankheitseinsicht fehlt ja auch. Wenn der Erkrankte später dann erkennt, was ihm passiert ist, sind die Bestürzung, die Scham, die Schuld am größten. Vor allem aber das Unverständnis gegenüber einem selbst. Die Frage, warum ich, warum so. Die Skepsis der anderen spiegelt noch die eigene Skepsis gegen sich selbst. Man versteht, warum die so gucken.» Klick.
«In Abwandlung eines Brechtwortes: In mir habe ich einen, auf den kann ich nicht bauen.» Klick.
Klick. Klick. Klick. «Ja. Ich habe Dinge vergessen oder verdrängt. Sie sind bestimmt noch da, aber nicht abrufbar. Andere wissen diese Dinge wahrscheinlich für mich. Manchmal sehe ich den anderen an, dass sie diese Dinge für mich wissen. Klick. Manchmal wissen sie sie für mich. Meistens gegen mich. Klick.» Klick.
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