Das Telefon läutete, Jahre schienen vergangen. Magnus hob nicht ab. Durch abzählbare Sonnenstrahlen, die wie angelehnt an der Wand standen, wankte er in sein Zimmer und fragte sich, wo sein Schatten geblieben war. Es war immer noch August. Der Computer lief. Die Lüftung gab unaufhörlich ein summendes Hintergrundgeräusch von sich, die Sphärenmusik der Büros. Magnus war noch in T-Shirt und Shorts, und seine Haare standen nach allen Seiten ab. Es war achtzehn Uhr abends, wie die digitalen Ziffern des Radioweckers rot meldeten. Er war zum Nachtmenschen mutiert.
Die Luft in der Wohnung war so trocken und staubig, dass die Zunge ständig belegt war und in den Hals zurückdrängte. Es schien zu rascheln, wenn man sich bewegte, wenn man nur atmete. Jegliche Feuchtigkeit wurde sofort von den rauen, unlackierten Dielen aufgesogen, auf denen Magnus ging wie auf etwas Giftigem, wie auf Asbest. Er nahm die Gatorade-Dose, die zwischen den zwei überfüllten Aschenbechern und den abgenagten Pizzarändern stand, und trank den Rest, der noch drin war, in einem Zug. Er öffnete das Fenster und atmete tief durch. Das half, obwohl die Luft heiß war und gebraucht vom Tag.
Dann setzte er sich an den Computer und besuchte Villa. Der Computer rackerte, surrte, tackerte knapp über der Wahrnehmungsgrenze. Magnus schloss die Augen.
Wieder läutete das Telefon. Er sah Villa, wie sie telefonierte, im Morgenmantel, die Telefonschnur um den Finger gewickelt. Gleichzeitig öffnete er im zweiten Fenster das Gästebuch und checkte im dritten Fenster seinen Kontostand. Ja, da war sein Lohn, da waren seine Ausgaben. Ja, seine Kreditlinie war angehoben worden. Genug Geld, um monatelang nichts zu machen, um weiter herumzuhängen, die Farbwechsel in der Luft zu registrieren und herauszufinden, was sich da zusammenzog wie ein dräuendes Unwetter oder ein sterbendes Organ.
Im Gästebuch waren wieder nur Idioten unterwegs, imbezile Nerds und kranke Provinzler:
«Villa, willst du mich mal in Reutlingen besuchen? Greetings, Arne»
«Villa, ich schaue im Fernsehen immer das, was du gerade schaust, und ich muss sagen, dein Geschmack ist ausgezeichnet! Muah, Silversurfer»
«BESTE! Honk21»
Magnus postete, ohne genau zu wissen, warum, eine anonyme Schimpftirade ( ihr Dumpfbacken, Schwallschwarten, Großspacken, Flachwichser ) und fuhr den Computer dann in den Stand-by-Modus herunter.
Wieder das Telefon. Er legte sich aufs Bett und starrte aus dem Fenster. Die Tauben fickten gegenüber. Ließen keine Federn dabei. Rieben mit ihren vergrätzten Flügeln an der alten, abgeblätterten Wand entlang, hockten in den Einschusslöchern aus dem Ersten Weltkrieg. Eine Taube drückte einer anderen Taube ihre Kloake auf. Eine andere einer anderen. Eine halb abgerissene Regenrinne hing über ihnen. Die Tauben gaben keinen Ton von sich, oder Magnus hörte nichts. Andere Tauben schliefen oder pickten in der eigenen Brust herum. Nickten. Magnus schaute da hin. Er war dergleichen gewohnt. Er kannte die Tauben. Sie kannten ihn.
Wieder das Telefon. Die Dinge riefen. Sie riefen Magnus. Das Telefon, die Möbel, die Wände, die Luft. Magnus, komm zurück, riefen sie. Tu es nicht. Bleib unter uns.
«Ach?», sagte Magnus. «Die Dinge rufen? Ich höre sie nicht. Könnten die Dinge eventuell etwas lauter reden? Ich wäre ihnen sehr verbunden.»
Es war irgendwann in einer weiteren Nacht. Er bezahlte den Eintritt, stieg die Graffititreppe hinunter und betrat den Kesselraum der Katakomben. Nässe schlug ihm entgegen, und Beats, Arme, Blicke, mitten ins Gesicht. Düstere Punk-is-dead-Punks zogen an ihm vorbei, mondsüchtige Studenten, verfilzte Grazien. Nachtleute, Tanzleute, alles in der eher schwarzen, versifften Version, umgeben von dunkler Schwüle. Magnus fühlte sich wohl. Im Kesselraum legte eine DJane mit Nasenring, pechschwarzen Locken und porzellanenem Gesicht ihren stahlklaren, im Zick-Zack strömenden Drum’n’Bass auf. Magnus zackte kurz mit, dann ging er weiter in den nächsten Raum.
Jubelschreie, Menschenansammlung, spastoides Glück. Gerade war keine Band da, jetzt war eine Band da, woher kam die Band? Schon spielte sie los, plötzlich aus dem Nichts, eine Musik, die einem die Ohren absengen wollte. Der Sänger sang nicht, er krächzte. Er war ein krächzender Tropfen aus Schweiß. Er hatte ein Tamburin in der Hand, auf das er einprügelte. Oder prügelte er mit dem Tamburin auf seine Hand ein? Dabei krächzte er pausenlos ins Mikro und schüttelte seine stolze Matte. Manchmal peitschte er seine Matte gegen das Publikum, und Hände griffen nach dem elektrisch knisternden Haar. Magnus wollte diese Matte auch berühren. Er tauchte ein in die Menge.
Dieser Russe war so wütend, er hatte eine bodenlose Wut auf etwas, er schrie «da, da, da» und «njet, njet, njet». Er fauchte die Menge an. Sie dankte es ihm mit obszönen Gesten und Jubelgeschrei.
Die Bühne bebte. Die Musik fetzte hart. Magnus versuchte, dem Russen mit den Zähnen eine Strähne aus der fettigen Matte herauszureißen. Es gelang nicht.
Dann jubelte er dem Gitarristen zu. Der hielt sein Plektron ins Licht wie ein Priester die Oblate vor der Wandlung. Dann zeigte er der Menge seinen rechten Daumen. Am Daumen fehlte der Fingernagel. Dann zeigte er nochmal sein Plektron, mit aufgerissenen Augen und stummem Mund, der sich wie brüllend bewegte. Er hielt das Plektron ins nackte Nagelbett. Jetzt sah Magnus es, zugleich mit allen anderen. Das, was der Gitarrist da zeigte, war kein Plektron, es war sein Fingernagel. Der wahnsinnige Russe hatte sich den Fingernagel aus dem Daumenbett gerissen, um damit die Saiten zu rühren. Die Menge johlte. Magnus auch.
Ein Mädchen zupfte Magnus am Ärmel, er schlug ihre Hand weg wie eine Schmeißfliege. Der Gitarrist zeigte, wie sich so eine Tortur im Endeffekt anhört. Er hielt die Oblate aus Menschenhorn nochmals in die Luft. Sie glühte auf im Scheinwerferlicht. Dann wuchtete er sie in die Saiten. Die Gitarre donnerte los, würgte dann, röhrte und ächzte. Das Mädchen war weg. Neben Magnus streckte eine Kleinwüchsige den kleinen und den Zeigefinger der Bühne entgegen und schrie spanische Sätze in den Lärm, die alle mit einem schrillen «Motherfuckerrr!!» endeten. Das war ihm sympathisch.
Der Drummer haute so heftig und aggressiv auf sein Schlagzeug ein, als ob seine arme Mutter drauf gefesselt wäre. So hämmerte er los. Das gefiel Magnus. Als wollte er seine Mutter jetzt und hier und endlich in die ewigen Jagdgründe befördern. Er jubelte ihm zu. Die Musik schmerzte in seinen Ohren wie eine heilende Entzündung. Er ließ sich hochheben, um über der Menge zu schweben, für einen kurzen Moment. Magnus schwebte, die Hände trugen ihn, die Musik walkte ihn gut durch. Dann kam er irgendwo anders zum Stehen. Nichts war passiert, alles in Ordnung.
Das Mädchen war wieder da. Sie packte Magnus am Kragen, schüttelte ihn, rief ihm etwas ins Ohr.
Als er sah, wie gleich vor ihm ein Joint von Hand zu Hand ging, ließ er das Mädchen links liegen. Als Wanderauge starrte ihn der Joint an, sich ihm nähernd. Jemand hielt ihn einfach hin. Dona Nobis Peace. Ja, gib ihn uns halt, deinen Frieden. Her damit. Sekunden später griff ihm der Cannabisrauch in die Lungen und betäubte die Kapillaren. Die Kiffer waren weg. Das Mädchen war weg. Die Band auch. Alle.
Am nächsten Morgen war Ortsbesichtigung des Mustershops am Kaiserdamm. Magnus betrat ihn mit dem Sonnenbrand eines Aliens, hochrot und blass zugleich, im Kopf noch verschlafen. Die Kühlung des Shops war, nach der Sommerhitze, eine Wohltat. Heere von Dosen und PET-Flaschen summten tibetanisch in den Kühlregalen. Wo man hinsah, griff die Aura industrieller Perfektion und gelbstichiger Supermarktstrenge einen an. Und in den Fenstern hingen Imperative.
«Das ist er ja», lächelte Françoise. Sofort kam sich Magnus gemustert vor.
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