Weißt du, was ich meine, Schatz?
Magnus saß am Beckenrand und spuckte in den Pool, in die wabernde Reflexion seines Gesichts. Der weiße Spuckefleck schwamm auf dem Wasser, genau in seinem rechten Auge, und tänzelte dort gemächlich auf und ab. Magnus tauchte die Hand ins Nasse, verwischte den Fleck und schaufelte etwas Wasser hoch. Er kannte den Geruch. Das Chlor roch nach Vergangenheit. Nach seiner Jugend. Nach Solarium, Hometrainer und Bild-Zeitung. Nach Aloe vera auf großporigen Fleischstücken. Nach braungebrannter Elefantenhaut an Hals und Schenkeln, nach ersoffenen Kippen in halbleeren Daiquiris. Der chlorschwangere Geruch benebelte ihn. Er spuckte nochmals hinein und beobachtete die kleinen Kreise, die die Erschütterung warf. In seinem Kopf war eine Leere, die mit nichts gefüllt werden wollte. Er atmete gierig den schweren Chlorgeruch ein, so als könnte diese Leere dadurch ausgedehnt und angereichert werden.
«Wer ist noch dabei», fragte Erik und deutete auf den kleinen Haufen aus Gras und Tabak.
«Ich glaub, ich nicht», sagte Jonna.
«Ich gerne», sagte Rieke und rümpfte komisch die Nase, sodass sich Lachfältchen wie Spinnenbeine von ihren Augenwinkeln abspreizten.
Magnus schwieg und wischte sich den Schweiß aus den Augen. Erik hatte die Raumtemperatur auf die höchste Stufe gestellt. Nun war es fast so heiß und stickig wie in einem türkischen Bad. In regelmäßigen Abständen baute sich eine ganze Wand aus feuchter Hitze und schwülem Nebel um Magnus auf und mauerte ihn immer enger ein, um dann in sich zusammenzufallen und ihn unter sich zu begraben. Hitzewallungen fluteten durch seinen Körper wie ein Adrenalinersatz.
Jonna setzte sich neben ihn.
«Bist du auch so fertig? Was machst du denn hier? Riechst am Wasser? Sollen wir nicht lieber mal reinspringen?»
«Kann man machen», sagte Magnus. «Kann man aber auch sein lassen.»
«Na, toll», sagte Jonna, lächelte und glitt ins Wasser.
Magnus blickte in das kleine dunkle Fenster zum Hantelraum und suchte den roten Lichtpunkt der Digicam. Er war dabei gewesen, als Erik sie nachmittags auf das Stativ geschraubt und alle Vorbereitungen getroffen hatte: die Kamera ausgerichtet, die Optik scharf gestellt, die Spiegelvorrichtung zurechtgerückt. Wie um diesen Unsinn noch zu toppen, hatte er dann mit den Worten «und das ist die Innovation, mein Freund» eine Webcam obendrauf postiert. Magnus hatte sein erstes Bier getrunken und gekichert; gleichwohl hatte er das Ganze unheimlich gefunden. Nicht den Auto-Voyeurismus, der da zur Schau gestellt wurde, sondern das Anachronistische daran.
Magnus zog sein Hemd aus, blinzelte dabei angestrengt in Richtung Kamera, konnte aber nirgendwo einen roten Punkt entdecken. Entweder die Spiegelvorrichtung verdeckte ihn geschickt, oder er war einfach zu betrunken. Vielleicht aber hatte Erik es sich auch anders überlegt und die schon nicht mehr postpubertäre, sondern eher bereits prämittlebenskritische Mitfilmaktion ganz bleibenlassen. Das wäre Magnus am liebsten gewesen. Es hätte ihn von diesem lästigen Mitwissertum befreit.
Er sprang.
Im Fernseher nebenan wurde im selben Moment ein alter Mercedes von einer Explosion auseinandergefetzt, deren Druckkraft die Motorradfahrer, die den Wagen soeben noch verfolgt hatten, in einem konzentrischen Spinnenmuster durch die Luft und aus dem Bild wirbelte, zusammen mit rotierenden Feuerbällen und rauchenden Wagenteilen, von denen eines genau auf die Kamera zuflog.
Eintauchen, in das Nasse, Kühle, Weiche. Die Poren werden schockgeöffnet. Die Klänge der Welt weggeschluckt, die Schwerkraft verdünnt. Das Chlor brennt sanft auf der Hornhaut. Du hörst den feuchten Lärm, den du machst, er klingt nah und wattiert. Die Kacheln wabern, werden schärfer. Ein kleiner Schmerz im Ohr, da, wo du einen Riss hast im Trommelfell, wo der Tinnitus fiept, wenn du hinhörst. Du hältst dir kurz die Nase zu, Druckausgleich. Es knackt im rechten Ohr. Dann tauchst du wieder auf.
Magnus war einer jener Menschen, die sich von der Außenwelt ständig bedrängt fühlen. Zu viele Sinneseindrücke prasselten auf ihn ein, vor allem, wenn er von anderen Menschen umgeben war. Zu viele Motive, Absichten, Reflexe zischten ihn an, wenn er mit jemandem redete. Er bedachte zu viel, blieb in der Außenperspektive stecken, fühlte sich, den anderen vermeintlich bis in die letzte Faser seiner Gedankentextur durchschauend, gelähmt. Da er der Natur nichts abgewinnen konnte und selbst das Gewisper der Bäume in einem Park ihn belästigte wie rosa Rauschen im Kopfhörer, war er, seit er denken konnte, am liebsten allein in seinem Zimmer, die Türe zu. Nur brennender Ehrgeiz und die kindliche Gewissheit, etwas Besonderes zu sein, hatten ihn in den Jahren der Pubertät aus dem Zimmer hinaus in eine Art soziales Leben gedrängt, in dem er sich ständig beweisen zu müssen glaubte. Und tatsächlich hatte er, weil er sich talentiert fühlte, Erfolg gehabt und den Ruf eines Genies genossen, mit kühlem Äußeren, das ein glühendes Inneres fasste. Dieser Ehrgeiz war inzwischen jedoch verblasst und zur leeren Gussform geworden, die darauf wartete, mit etwas anderem, Wesentlichem gefüllt zu werden. Er hatte sein altes Ich noch nicht gänzlich abgelegt: Es beschützte ihn wie ein harter Panzer, unter dem ein neues Etwas, amorph und wabbelig wie Austernfleisch, nach Halt und Form suchte. Aber unter dem Panzer war die alte Unsicherheit und Verantwortungsangst wieder eingekehrt, die ihn als Kind in ständige Unruhe versetzt hatte. Er wollte, dass ihm alles Gute zustoßen möge, alle Wünsche wahr würden, ohne dass ein Wille in ihm keimte und er somit Schuld auf sich laden könnte. Beispielhaft hierfür war eine seiner ständigen Phantasien auf der Schwelle zur Geschlechtsreife: Damals hatte er sich nichts mehr gewünscht, als mit Jonna zu schlafen, ohne dass er gewusst hätte, wie das genau geht; und dieser Wunsch war sofort mit einem stichelnden Schuldgefühl verbunden gewesen, das ihm den Traum zersetzte und zusammenfallen ließ wie kalten Schaum. Um dieses Schuldgefühl zu umgehen, steigerte er sich deshalb abends (nach dem Vaterunser, das Abend für Abend in immer rasenderem Tempo heruntergedacht und abgehakt wurde) in Szenarien hinein, in denen er jeglichen Begehrens frei sein würde, Szenarien, in denen beispielsweise Jonnas Mutter, flankiert von einem besorgt dreinblickenden Arzt, ihn inständig darum bat, mit ihrer Tochter zu schlafen, da diese ansonsten an einer unaussprechlichen Krankheit sterben würde, etwa einem furchtbaren Hirnschwund anheimfiele, oder nie mehr ein Kind bekommen könnte. Irgendwann in einer dieser fiebrigen Halbdämmerphantasien hatte er dann seinen ersten Orgasmus gehabt, vor Jonnas imaginär versammelter Verwandtschaft und Ärzten und gerührten Krankenschwestern, die einander an den Händen haltend zusahen, wie er Jonna selbstlos das Leben rettete. Seit jener Zeit auch sah er, wenn er lächelte, das eigene Lächeln in seiner Vorstellung als gestellte Fratze, gedoppelt von außen, verzerrt wie von Photoshop.
Jonnas Lächeln war arglos; sie hatte keine Mühe, es über Wasser zu halten. Sie schwebte an der Oberfläche, leichtgliedriges Federgewicht, das sie war, Magnus immer im Blick, mit ihren großen, braunen Augen, in denen sich die Wellen von unten spiegelten und etwas flackerten. Mit spitzem Mund und runden Augen blickte sie ihn fröhlich an, prustete Wasserkristalle, kraulte Rücken, technisch einwandfrei, wie sie es schon sehr früh in der Grundschule gekonnt hatte. Das Wasser schwappte über ihre Brüste, ihre Beine schlugen auf und ab im Scherenschlag und warfen nasse Funken ab. Drei schwarze Strähnen klebten an ihrer Stirn und funkelten ihn an. Es sah unbeholfen aus, wie Magnus auf sie zukraulte, er kam kaum von der Stelle; er musste die Hektik abwehren und seinen Atem organisieren und auf das ihm nicht zugängliche Wissen seines Körpers vertrauen. Als er sich nicht mehr anstrengte, ging es sofort besser. Mit weitausholenden Kraulbewegungen schwamm er auf Jonna zu, langsam, instinktiv, gleichmäßig wie ein Krokodil.
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