Sei der Pool auch neu und türkis, es ist immer noch das alte Wasser, das, wenn du dich einlässt, Erinnerungen durch deinen Körper schickt, die nicht deine sind, die deinem Körper gehören, die ihm nicht gehören, auch sind es keine Erinnerungen, vielleicht zähe Reflexe, Frühestes, abgerufen aus dem Hallraum zwischen Physis und Psyche, der beim Driften im Fruchtwasser ein erstes Echo in sich trug.
«Hier», sagte Jonna. Ihr Jochbein, besprenkelt mit Tropfen wie Perlmutt, machte einen kleinen Ruck nach oben und gab den Blick auf das Dreieck zwischen Halsbeuge und Brustbein frei. Sie lag auf dem Wasser, die Arme lässig auf den Beckenrand gestützt, und drückte ihm einen Drink in die Hand.
«Was ist das?», fragte Magnus, außer Atem.
«Jonna’s Sunrise», sagte Jonna. «Ich habe einfach Zucker, Orangensaft, Wodka und Batida zusammengemischt. Die Reste. Und Kirschsaft.»
«Schmeckt aber», sagte Magnus.
«Das ist eine Lüge», sagte Jonna.
«Stimmt», sagte Magnus. Der Halbmond ihres Gesichtes schien ihn von der Seite an, als wollte Jonna ihn zu etwas auffordern. Drüben alberten Rieke und Erik miteinander herum und kamen sich näher, Korkenzieherlocke an Fettschwarte.
«Ist alles okay bei dir?», fragte Jonna.
«Geht so», sagte Magnus. «Lily nervt.»
«Klar», sagte Jonna, «Familienstress zwischen den Jahren. Hat jeder. Frag mich mal.»
Magnus kam die Situation plötzlich seltsam intim vor, so zu zweit im Wasser, nass, halbnackt, mit an den Schädel gepappten Unfrisuren — wie zwei Babys, die gemeinsam schwimmen lernten; oder auch wie zwei Fremde, die je alleine in der vollgedampften Ecke eines Hamams zu sitzen geglaubt hatten und gerade jetzt, wo der Dampf sich etwas lichtete, erschrocken einander entdeckten. Die Situation hatte etwas Ursprüngliches, Archaisches, und deshalb auch etwas Schamhaftes.
«Aber bei dir ist das was anderes», sagte Magnus.
«Was? Wieso?», fragte Jonna.
«Deine Familie ist doch eine Bilderbuchfamilie», sagte er, «mit christlichem Rückgrat, gutgeratenen Kindern, einer wohlsortierten Bibliothek und einer Hintertür, die immer offen steht, während ich —»
«Nein», sagte Jonna, «ich meine nicht unbedingt meine Familie, ich meine eher die Zeit. Etwas ist anders dieses Jahr. Etwas ist — etwas ist anders.»
Sie sagte das fast mit einem Lispeln, die Sibilanten zischten besonders hart, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie betrunken war oder etwas ihr Unangenehmes aussprach.
«Was ist denn anders?»
Jonna schwieg.
«Jonna?»
Magnus spürte eine Welle der Melancholie durch seine Brust gehen.
Jonna war immer straight gewesen. Bildhübsch im Gesicht, der Körper eine Wohltat für pornomüde Augen, ein offenes, weltzugewandtes Lächeln dazu, für alle und jeden fast, diente sie als Projektionsfläche für weitaus mehr als plumpe Sexphantasien, eigentlich im Gegenteil: Bei Jonna ging es immer gleich ums Ganze, um die Ehe, um die Familie, so hatte ein Großteil der Internen gedacht, früher, oben auf dem Berg, und nicht nur sie, nicht nur sie.
Magnus erinnerte sich an Abende mit ihr, da sie am Rhein gesessen, das Wasser beobachtet, auf den Atem des anderen gehorcht hatten, wie der Fluss nach links geflossen war, einer riesigen Zunge ähnlich, einem starken feuchten Muskel, der sich beständig zwischen Bonn und das Siebengebirge schob — um nichts zu schmecken?
Wie sie sich mit billigem Tankstellenwein betrunken hatten, langsam die Luft weicher und frischer und kostbarer geworden war, mit jedem Schluck und jeder Minute, ein Meer aus vaporisierten Diamanten, Medizin für Lungen und Herzen; und das ziegelfarbene Licht, in dem die gegenüberliegende Halbstadt zu flimmern begann; und Brezelreste auf der Decke, die unterm Rücken zerkrümelten, während sie dalagen und leise Träume und Kindernamen aus rotweinblauen Mündern hochsteigen ließen, in den dunklen, sternenbesetzten Himmel, der so irre runterkam, und wieder hochging, und wieder runterkam — und die Frage, ob der Himmel vielleicht das Trampolin Gottes sei? Und die Sterne nur winzige Löcher im elastischen Stoff, und dahinter das hochpotente Scheinwerferlicht einer Turnhalle voller — Glück?
Stunden voller Lachen und Mondgeflüster und Mückensummen: damals, als man sich ständig neu erdachte und Lebenspläne verbrauchte wie starke Zigaretten, Hauptsache, es brannte gut auf der Zunge; Hauptsache, das Brennen konnte in einer Minute (oder in einer Stunde oder in einer Woche oder irgendwann ) von diesem einen Kuss gelöscht werden, der in der schimmernden Luft lag; der Kuss, auf den alles hinauslief, der Kuss, der allem bisher Geschehenen eine andere, eine richtigere Bedeutung geben würde und von dem her sich die Kostbarkeit dieses Augenblicks speiste, aus der Zukunft, an diesem Fluss, der so philosophisch wie das Leben war, nur einmal greifbar in diesem Moment und im nächsten schon ein anderer, ja , ihr Griechen, ja ; und wie ihrer beider Hände das trübe Rheinwasser hochschaufelten, um es festzuhalten, und wie das Wasser, wenn man es festhalten wollte, zwischen den Fingern hindurchrieselte, behänder als Sand oder Öl oder Milch.
«Sonnengeflüster, Drogenrauschen, gescheckte Geräusche: Damals, als wir uns ständig neu erdachten, damals, es ist gar nicht so lange her, stell dir vor, als wir uns als Rebellen gefielen, die die Füße nur hochlegten, wenn der viele Wein in die Beine zu sickern drohte, und uns beim Kreuzpissen verbrüderten; achtmal die Acht gingen, bis es einem gut schwindelte; als wir dachten, wir seien Revolutionäre, oder wir könnten Revolutionäre sein, bestimmt, bald; oder vorgaben, es zu denken, ein Frühling lag in der Luft, Aufbruchsgelüste, wir hatten ihn selbst hineingelegt; und eine Guerilla werden wir sein, nickten wir, erinnerst du dich, ein fürchterliches Tribunal, denn wir sind aus dem Dschungelholz der Guillotine geschnitzt, weißt du das noch, hörst du mich; als wir gegen den Wind agitierten, seraphisch wie hier, mal in die eine Richtung, mal in die andere, the way the wind blows , von der Brüstung fielen und liegen blieben, weil der Himmel so irre runterkam, lachten; Frühling am Rhein: Damals, was ein Wort, tratst du in mein Leben, tratst du ein, tratst du in mein Leben rein, mit spitzem Schuh, zerbeultest seine jungen Formen, und herausgekommen bin ich, in allen meinen gezinkten, gezackten Ausführungen, und habe mich, den anderen, total verdrängt.»
Atmen.
Klick.
«Nichts ist anders», sagte Magnus. Er hörte seine Stimme wie aus einer Entfernung, spürte Jonnas Oberschenkel an seinem. Er unterdrückte die Melancholie.
«Was ist denn los, Jonna? Ist es wegen des Examens? Ist der Druck zu groß?»
«Nein», sagte Jonna, «es ist — ich weiß es nicht.» Ihr Gesicht schimmerte ängstlich über den seichten Poolwellen.
«Sollen wir nicht gleich zu mir fahren?», fragte sie, und Magnus sah ihren kleinen Mund und ihre weißglänzenden Schneidezähne wie isoliert vom Rest des Gesichts.
«Ich würd’s dir gerne erzählen, aber nicht hier, nicht so.»
«Was ist jetzt?», fuhr Erik von der anderen Seite des Pools dazwischen. «Noch jemand dabei beim frühmorgendlichen Konsum von erlesensten Herbalprodukten?»
Seine Stimme klang metallen.
«Ja, können wir machen», sagte Magnus, dann leiser, zu Jonna: «Was ist denn los? Bist du etwa schwanger?»
«Quatsch», zischte sie und stieß sich los.
«Warum sagst du es denn nicht einfach?», fragte Magnus ihren wegruckenden Rücken.
«Du lässt einen ja nicht zu Wort kommen», zischte sie nochmals über die Schulter zurück und schnitt durchs Wasser.
«Das alte Übel: Sauna und doch so fern », rief er ihr hinterher und lächelte. «Oder, Jonna?»
«Nicht witzig», sagte sie ins Wasser, «nicht witzig.»
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