«Seit gestern weiß ich es. Bin noch ein wenig durcheinander.» Er fasste sich unwillkürlich an den Kopf.
Taue blieb bei seinem kleinen Lächeln, als wüsste er, dass Thorsten log, zum zweiten Mal in fünf Minuten.
«Aber das soll uns nicht vom Optimieren abhalten», prustete es leise aus Thorsten heraus. Françoise strahlte ihn an, mit leichter Befremdung.
«Wissen Sie schon, was es ist?», fing sie ab.
«Nein, das ist noch zu früh», lachte er. «Aber gut. Kommen Sie, Magnus.»
Er führte Taue in den Eingangsbereich.
«Hier. Vor der Optimierung fehlte dem Kunden aufgrund der T-förmig angeordneten Regale der Überblick», erklärte er mit leerem Kopf. «Die Produkte klumpten zusammen — setzen Sie das in Anführungszeichen, falls Sie es benutzen, also, das ‹Klumpen› jetzt — und vermittelten einen lagerartigen Eindruck. Kein offener, großzügiger Weg, verstehen Sie? Der Kunde passierte auf dem Weg zur Kasse lediglich einen Warenträger mit nur einer Warengruppe, hier waren es zuletzt Kekse, glaube ich.»
«Aha», sagte Taue und schrieb mit.
«Jetzt aber fällt der Blick ungehindert in die einladenden Gänge. Man kann sich schnell orientieren und findet sofort sein Wunschprodukt, weil die schräg und in Gehrichtung angeordneten Regale mehr Blickfläche bieten und die Dynamik des Kunden nicht bremsen. Auf dem Weg zur Kasse kommt er an drei Gondelköpfen vorbei: Die Stirnseiten der Regale bieten Chancen für Aktionsplatzierungen. Besonders hilfreich für die Ermittlung optimaler Gangstrukturen — Achtung, jetzt kommt das Schlagwort — ist das so genannte «Zoning», die Einteilung der Warengruppen in sinnvoll gebildete Zonen. Hierbei werden die verschiedenen Kundenlaufrichtungen ausgewertet. So können ‹heiße›, ‹mittlere› und ‹kalte› Zonen festgestellt werden. Je öfter eine Zone passiert wird, desto ‹heißer› ist sie — und desto öfter fällt sie ins Blickfeld des Kunden, desto öfter greift der auch spontan zu. Der Verbundkauf wird so entscheidend gefördert. Das Paradebeispiel einer ‹heißen› Zone ist der Kassenbereich. Kommen Sie.» Sie liefen den Gang hinab.
«Hier sieht man’s. Vorher war die Kassenzone überfrachtet und unübersichtlich. Zeitungen, Presenter und Aufsteller lenkten vom strukturierten Angebot ab, zu viel Ware verwirrte den Blick. Jetzt ist alles aufgeräumt und übersichtlich. Der Kontakt zum Kunden verläuft direkt, die Sicht ist frei. Ein neuer Block herzhafter Snacks ist aufgrund hoher Umsätze in die ‹heißeste› Zone des Kassenbereichs gerückt. Und die Schokoriegel in Kingsize sind oben. Schließlich gibt das größere Margen. Alles klar?»
Taue hörte ihm belustigt zu und schrieb Unentzifferbares auf seinen Studentenblock. Thorsten war es unangenehm, dass er ihn so betrunken gesehen hatte. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber er wusste nicht mehr, ob sie beim Du oder beim Sie waren. Das Sie war sicherer.
«Wichtig ist auch, dass die Benchmarkdaten, also die Daten der nächsten Stationen im Umfeld, nun vergleichend hinzugezogen werden. Auf diese Weise kann man ermitteln, welche Artikel sich in einer bestimmten Umgebung besonders gut verkaufen und potenzielle Umsatzsteigerer sind. Das Planogramm ist überdies regionsspezifisch und kann auf jede Station individuell abgestimmt werden.»
Taue beugte sich hinüber zu ihm und sagte: «Du hast eine Fahne, Thorsten.»
Thorsten fühlte ein Nadelkissen in seinem Nacken.
«Ich?»
«Ja. Ich sage es nur. Ich bin nicht das Problem.»
«Was meinst du?»
«Das Problem sind die Leute, die es riechen und nichts sagen. Verstehst du?»
«Ich glaube schon.» Thorstens Kopf war plötzlich wieder leer, ein Resonanzraum der widerhallenden Sätze.
«Ich sag’s nur.»
Françoise näherte sich.
«Und wie war das noch mit den Argumenten für ‹Weniger ist mehr›?»
«Was?»
«Sie sagten etwas von Artikeln, die soundsoviel Prozent des Gesamtumsatzes …?»
«Richtig», sagte Thorsten. Sein Rücken brannte, Schweiß trat auf seine Stirn. «Im Durchschnitt bringen etwa dreißig Prozent der Artikel schon über achtzig Prozent des Umsatzes. Noch eindrucksvoller: Allein die besten sechs Artikel sorgen schon für fünfzig Prozent des Umsatzes.»
Er versuchte so zu reden, dass Françoise seinen Atem nicht riechen konnte.
«Wir können da eine schöne Grafik bauen. Grundaussage: Es gibt ein relativ kleines Kernsortiment, das den Löwenanteil am Umsatz jeder Station generiert. Diese Erkenntnis nun wird in der zweiten Optimierungsstufe noch konsequenter als bisher in die Tat umgesetzt …»
Dreizehn Uhr. Klick. «Nehmen Sie bitte die Tiefkühlpizzen in die Hand? Und die Dame das Stoffherz? Sie davor bitte die Ferrero Küsschen?» Ein Fotograf mit Beethoventolle dirigierte. Geheime, stille Machtkämpfe wurden ausgetragen, wer im Vordergrund, wer im Hintergrund stehen würde auf dem Teambild für WELCOME. Thorsten ließ sich nach hinten abdrängen.
«Soll ich die Sixpacks so halten? Und auch die Zigarettenstangen? Luckys oder Marlboro? Und lächeln! Lächeln? Brauchen Sie uns doch nicht zu sagen, wir strahlen von innen. Und zwar twentyfour-seven , ha, ha.» Klick.
Dreizehn Uhr dreißig. «Die Deutschen sind so», sagte Françoise, die französische Jüdin. Ihre sternenförmige Brosche am Revers funkelte.
«Keiner traut sich etwas. Wenn ich einen Witz mache, schauen sie mich an, als sei ich ein Alien!»
Sie gluckste und verzog das Gesicht.
«Heute», sagte sie, «habe ich Wuhlstätter gesehen und gesagt, die Stimmung ist ja toll hier, da kann ich ja gleich deportiert werden. Den Stern» — sie deutete auf ihre Brosche — «trage ich ja bereits. Da ist dem fast die Kinnlade abgefallen!»
Thorsten lachte in seine Lasagne, aber nicht stark. Er hatte Herzrasen und Angst, er könnte kollabieren.
Fünfzehn Uhr. Zitternis und Kaugummi. Auswertung Thüringen: Es könnte besser sein. Die Kräne draußen wankten hin und her. Die Zahlen und Tabellen tanzten. Mode kam hinzu und redete ohne Unterlass.
«Da sind auch noch andere Tabellen, hier», sagte er, «wurden die vom Bezirksleiter bestätigt?»
Schraffierte Balken und aufgeschnittene Prozentkuchen waberten vor Thorstens Gesichtsfeld. Er hangelte sich von Spalte zu Spalte und rutschte dann, leicht schwindlig, in Spiralen die Zeilen hinab. Er nahm Mundgeruch wahr, der sich aus Zigarre, Whiskey, Schnittlauch und etwas Viertem, sehr Altem zusammensetzte. Er wusste nicht, woher das kam, Mode war ein ausgewiesener Alkoholgegner und Nichtraucher. Als Thorsten die Graphen weiter anstarrte und Modes verwachsene Finger mit der wuchernden, beigen Hornhaut darüberwischten, schienen sich die Worte in Thorstens Hinterkopf mit den fröhlich permutierenden Tabellen zu vermischen; die Tabellen bildeten zusammen mit Modes Gerede und Gelache und dem rosa Businessrauschen von allen Seiten ein unleserliches, sich ständig wandelndes und verschiebendes Muster, das in seinem Kopf zu wuchern begann, halb Paisley, halb Hirnwindung, eine Wurzelwelle — und das Urmuster verästelte sich in andere Muster, die seine Form in sich aufhoben oder zerstörten und immer weiter schwer nach unten wuchsen … die niemals aufhörten, unendlich offen waren … ihre Form ein Wabern … und der Monitor absorbierte das Licht … sein Magen drehte sich um … es roch nach vergorenem Honig … das Licht verschwand im Licht …
«Alles in Ordnung, Herr Kühnemund?»
«Ja. Ja, ja. Wissen Sie, die Nachricht erreichte mich erst gestern.»
«Welche Nachricht?»
«Ich werde Vater.»
«Ach? Das ist doch ein Grund zur Freude!»
«Ich freue mich auch wahnsinnig. Es muss nur erst noch verdaut werden. Es kam überraschend.»
«Ich kenne das, klar. Aber herzlichen Glückwunsch.»
«Danke. Jedenfalls, was Erfurt angeht, hier die Station August-Straße, da hat jetzt eine PKN-Orlen-Station in unmittelbarer Nähe aufgemacht, deshalb wohl die miese Bilanz …»
Читать дальше