Als sie kein Fieber mehr hat, ist sie um drei Kilo leichter. Du siehst aus wie ein Faden im Wind, stellt Silvester erschrocken fest. Sie kann vor Schwäche nicht mal lächeln, nimmt alles wie durch einen trüben Belag auf der Netzhaut wahr, die einfachsten Tätigkeiten fallen ihr schwer. Julius scheint seine Mutter gar nicht wiederzuerkennen, er betrachtet sie wie eine Fremde, die man ihm ungefragt vor die Nase gesetzt hat.
Im Museum sitzt sie frierend am Schreibtisch, ihre Füße stecken in einem elektrischen Heizschuh. Bei allem, was sie macht, ist sie nur halb bei der Sache. Sie hat Angst, Hans zu beleidigen, wenn sie den Mund öffnet — also schweigt sie. Abends geht sie wieder allein in die Stadt, trifft sich mit Irma in der» Csárdás«. Nach einigen Gläsern Wein zu viel kommt sie nachts einmal an einem Podest vorbei, auf dem die Fahnen aller Bruderländer für die Herbstmesse gehisst sind. Aus einer plötzlichen Laune heraus möchte sie die Fahnen runterholen. Sie klettert auf das Podest und beginnt an den Masten zu hantieren. Eine Fahne nach der anderen flattert zu Boden. Zufrieden betrachtet sie ihr Werk, setzt sich zwischen die Stoffhaufen, raucht eine Zigarette, sieht sich um und bemerkt, dass sie nicht allein ist. Wie aus dem Nichts steht ein Mann vor ihr. Erschrocken steigt sie vom Podest und lächelt den Mann an. Sein Gesicht bleibt leblos wie das einer Holzpuppe, er sagt kein Wort. Als sie wegläuft, heftet er sich an ihre Fersen. Sie setzt zu einem Sprint an und rennt, als wollte sie einen neuen Rekord aufstellen, aber sie kann ihn nicht abhängen. Feigling, ruft sie wütend, erbärmlicher Feigling, sie dreht sich kurz um und sieht ihm an, dass es ihm nichts ausmacht — das Recht ist auf seiner Seite. Mit einem lauten Schrei zwängt sie sich durch ein Gebüsch am Straßenrand, rennt über eine Wiese, spürt ihre Schritte langsamer werden. Der Mann ruft ihr etwas hinterher, auch er klingt wütend, rechtschaffen wütend. Sie entdeckt eine Baustelle, läuft kreuz und quer über Schutthaufen, Kabelrollen, schlägt Haken, kriecht in eine der großen Betonröhren, bleibt dort regungslos hocken. Nichts als Stille und Dunkelheit, dann aus der Ferne die Stimme des Mannes, freundlich, lockend. Doch darauf fällt sie nicht herein. Sie hält die Luft an, als könnten ihre Atemzüge sie verraten, und selbst als die Stimme des Mannes schon lange verstummt ist, bleibt sie in der Betonröhre hocken. Wind streift hindurch, es klingt wie das Rauschen in einer Muschel, die man sich dicht ans Ohr hält. Erst als Licht am Ende des Tunnels aufscheint, kriecht sie ins Freie. Die Sonne überzieht die Baustelle mit Helligkeit. April steht da und versucht sich zu orientieren, von allen Seiten geheimnisvolle Geräusche, ein kühler Hauch steigt vom Boden her auf. Als sie begreift, wo sie sich befindet, wie weit sie von Hans und Julius entfernt ist, begreift sie auch, dass ihre Sehnsucht nach Normalität nur gestillt werden kann, wenn sie es schafft, sich zu ändern. Dabei hat sie längst den Spruch von Pestalozzi in ihren Schreibtisch geritzt:»Wer sich nicht selber helfen kann, dem kann niemand helfen.«
Silvester hat im Museum gekündigt — er wird Theologie in Naumburg studieren — , und statt seiner sitzt ihr das Pferdeschwanzmädchen gegenüber, die junge Frau, die April schon in seiner Wohnung kennengelernt hat. Silvester ist Atheist, doch Theologie ist das einzige Studium, das Leuten wie ihm offensteht.
Leuten wie dir, was meinst du damit?
Das muss ich dir doch nicht erklären, sagt Silvester.
Ach, manchmal weiß ich nicht, was das Ganze soll, sagt April, wozu sich abmühen.
Mit solchen Gedanken verschwende ich nicht meine Zeit, sagt er. Du brauchst immer deine Portion Verzweiflung, oder?
Susanne, das Pferdeschwanzmädchen, will Papierrestauratorin werden; es wird eine Freundschaft auf den zweiten Blick. Sie sehen sich stundenlang die Fotos aus dem Archiv an, stellen sich vor, sie würden in diesen wilden Gegenden leben, kichern über Eingeborene, die ihren Penis mit einem Rohr verhüllen.
Sie bemalen Reißzwecken mit knallrotem Nagellack und verkaufen sie als Ohrringe; von dem Erlös kauft sich April einen Schal, den sie schon bald verliert. Sie schneiden sich gegenseitig die Haare, lassen Freundschaftsfotos anfertigen. Susanne näht Hosen und Hemden, eine Art Mao-Uniform, die sie zum Ausgehen tragen. Sie sprechen über Männer.
Ich finde männliche Unterarme erotisch, sagt April. Sie will originell sein, sich als Männerkennerin ausweisen. Doch Susanne sieht sie nur groß an.
Einmal bringt Susanne eine Mappe mit ins Museum, eine Untergrundmappe, die in Berlin herausgegeben wird. Hier, schau dir das an, sagt sie und reicht April die Mappe über den Schreibtisch. Darin liegen lose Blätter mit Gedichten, Erzählungen, Fotografien und Graphiken. April kann nicht beurteilen, ob die Texte gut oder schlecht sind, die Fotos gefallen ihr, bei den Graphiken ist sie sich nicht sicher. Das wäre doch ein Abenteuer, sagt sie, und Susanne pflichtet ihr bei, ja, das können wir auch.
Es geht ihr nicht darum, sich auf diesem Weg kritisch mit ihrem Land auseinanderzusetzen. April kann sich nur auf ihr Unrechtsbewusstsein verlassen, und natürlich empfindet sie jede Form von Zensur als ungerecht. Bei Diskussionen ist ihr oft unklar, auf welche Seite sie sich schlagen soll, aber sie ist eindeutig dagegen, im Dienst einer übergeordneten Sache ein Menschenleben zu riskieren. Es ist ihr egal, dass andere sie für eine altmodische Schlafmütze halten, wenn sie die Kaufhausbrände der Baader-Meinhofs als mörderisch und menschenverachtend bezeichnet. Diese Ereignisse spielen sich jedoch in einer anderen Welt ab, sie sind so weit weg, dass April sich ein Urteil erlaubt. Aber hier, wo sie zu Hause ist, ist ihr Blick getrübt, sie kann nicht klar sehen. Die Stasi-Geschichten kommen ihr aufgebauscht vor. Als bei der letzten Volksvertreterwahl zwei Leute vor Aprils Tür standen, um sie persönlich zur Abstimmung abzuholen, hat sie ihnen einfach die Tür vor der Nase zugeschlagen — und? Danach passierte nichts.
Die Vorstellung, eine solche Mappe zu gestalten, bereitet ihr Freude. Damit könnte sie der klappernden Öde entkommen, in der sie gerade feststeckt. Die klappernde Öde schaltet in ihrem Gehirn ganze Bereiche aus, und jeder Gedanke ist dann bloß ein Abziehbild des vorangegangenen.
Doch mit der Freude ist es auch so eine Sache, April scheitert schon an ihrem Unvermögen, einen Rundbrief an die Künstler zu verfassen. Sie schreibt so alberne Dinge wie: Ergüsse, wir würden uns über eure literarischen Ergüsse freuen. Sie nimmt weder sich noch die anderen ernst. Wer soll sich dadurch angesprochen fühlen?
Von wegen: Das wäre doch ein Abenteuer, das können wir auch. Was befähigt sie dazu? Sie sucht die Künstler persönlich auf und wird freundlich empfangen, bekommt Tee, Schmalzbrote, schon deshalb ein lohnender Ausflug. Sie tut ihr Möglichstes, um zu erklären, was sie will, sie hat die Mappe aus Berlin dabei. Bis zum Morgengrauen sitzt sie mit Malern, Dichtern, ganzen Familien am Küchentisch, es gibt jede Menge Ideen und Anregungen. Nach und nach fällt es ihr leichter zu sagen, was sie vorhat, und wenn Susanne dabei ist, sind sie ein eingespieltes Team. Sie wollen ihre Untergrundmappe» Anschlag «nennen, die Auflage soll dreißig Stück betragen.
Inzwischen haben sie ausreichend Fotografien, Graphiken und Texte für die erste Ausgabe gesammelt. Eine Auswahl treffen sie nicht, denn das hieße Zensur. Tagsüber tippen sie im Museum Gedichte und Erzählungen ab, mit Blaupapier schaffen sie in einem Durchgang vier Seiten, von den Graphikern und Fotografen erhalten sie die Arbeiten in dreißig Abzügen. Susanne hat einen blauen Einband aus Ölpapier entworfen und ihn dreißigmal hergestellt. Sie haben den Anspruch, eine richtige, gebundene Zeitschrift herauszugeben. Abends treffen sie sich in Susannes Wohnung, verkleben die einzelnen Blätter, lassen sie trocknen, dann werden sie gepresst. Zum Schluss wird jede Mappe noch einmal genagelt und der Rücken mit einem Zierband verklebt. Sie arbeiten still und konzentriert, ohne Pausen, und als die Mappen fertig vor ihnen liegen, ist das ein großartiges Gefühl. Sie verteilen ihren» Anschlag «an alle Künstler, die sich beteiligt haben, und an Freunde, die die Mappen reihum weitergeben. April würde sie gern Schwarze Paul, Sputnik und den anderen zeigen, doch sie ahnt, dass ihre alten Freunde darüber eher befremdet wären. Sie hört Schwarze Paul ihren Spitznamen rufen, Rippchen, Rippchen, was machen wir jetzt?
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