Setz dich, sagt die Kollegin, die April zu sich ins Büro zitiert hat, und rückt ihr einen Stuhl am Tisch zurecht. Dann teilt sie ihr mit, dass sie einen Verweis erhält, weil sie die Ehre der Nationalen Volksarmee beschmutzt habe.
Das ist doch nicht nötig, versucht April zu scherzen, als wären ihr drei Stück Kuchen auf einmal angeboten worden.
Die Kollegin schweigt.
Wir sind unter uns, du kannst mir den Verweis geben, aber du kannst auch ruhig zugeben, dass es Schwachsinn ist.
Ihre Kollegin macht eine abwehrende Geste. Es muss sein, sagt sie, ich stehe dazu.
April lässt nicht locker. Ein Zwinkern, sagt sie, nur ein leichtes Zwinkern in meine Richtung, es sieht doch niemand.
Die Kollegin schüttelt nur knapp den Kopf.
Freitags treffen sich junge Leute bei Silvester und diskutieren über Kunst und Politik. April ist aufgeregt, als sie das erste Mal hingeht, es sind nur zehn Minuten zu Fuß von ihr bis zu seiner Wohnung im obersten Stock eines Abrisshauses. Die Tür ist angelehnt, auf dem Flur stehen zwei Frauen in Rauchwolken gehüllt und reden. Silvester sitzt mit einem bärtigen Mann am Küchentisch, er blickt nur kurz auf, als er sie entdeckt. Seine Ohren bewegen sich, wenn er spricht, sie stellt sich vor, wie sie zu ihm geht und ihn küsst, einfach so. Es versetzt ihr einen Stich, als ein Pferdeschwanzmädchen ihn stürmisch begrüßt. Sie geht zu den zwei Frauen im Flur und tut so, als würde sie zuhören, sie reden über den Kater aus dem Roman» Meister und Margarita«, dessen Name im Russischen Nilpferd bedeutet. April mustert die jungen Frauen und überlegt, ob eine von ihnen Anspruch auf Silvesters Schlafzimmer hat. Ich fände es dämlich, als Kater Nilpferd gerufen zu werden, sagt eine der beiden; April nickt flüchtig und sieht sich in der Wohnung um. Wenig Möbel, überall Bücher und Zeitungsstapel, sogar neben dem Herd in der Küche liegt ein aufgeschlagenes Buch. Sie trinkt von dem schwarzen Tee, isst eins der Schmalzbrote.
Als die anderen sich verabschieden, bleibt sie einfach sitzen, zündet sich noch eine Zigarette an, stellt den Wasserkessel auf, als wäre sie hier zu Hause. Benommen von der Hitze und ihrem Mut sagt sie: Die Todesstrafe ist das Schlimmste für mich, und sie sagt es so, als würde sie ein gerade begonnenes Gespräch fortsetzen. Es ist das pure Grauen, weil man noch am Leben ist, wenn das Urteil gesprochen wird.
Sonst wäre es ja keine Todesstrafe, sagt Silvester.
Sie schwitzt, das Hemd klebt ihr auf der Haut. Aber kennst du das nicht, sagt sie, diese Ohnmacht, wenn jemand einfach über dein Leben verfügt. Und dann sogar über dein Sterben.
Du siehst müde aus, sagt er und geht ins Schlafzimmer.
Sie folgt ihm, als hätte sie Gewichte an den Füßen. Ein Stempel auf dem Papier und du bist tot, sagt sie. Das ist doch Irrsinn, du kannst nichts dagegen machen.
Silvester zieht sich aus, und dann steht er nackt vor ihr; während sie auf dem Bettrand sitzend versucht, sich mit der Jeans auch gleichzeitig ihrer Trainingshose zu entledigen.
Die Todesstrafe, sagt Silvester, und du willst trotzdem mit mir ins Bett?
Als April in den frühen Morgenstunden nach Hause läuft, fühlt sich ihre Stirn heiß an, als habe sie Fieber. Die Frau mit der Warze kommt ihr in den Sinn — alles in Ordnung, sagt sie leise, in allerbester Ordnung. Obwohl Hans ihr sehr deutlich zu verstehen gegeben hat, dass er niemals eifersüchtig sein wird, niemals! sind ihre Schritte schuldbeladen. Wie soll sie sich später an den Frühstücktisch setzen, als wäre nichts geschehen?
Am nächsten Tag im Museum erzählt ihr Silvester einen Witz, wie immer mit todernstem Gesicht. Sie versteht den Witz nicht, auch so wie immer.
Freitags endet der Abend stets in seinem Schlafzimmer, und die Tage davor wartet sie auf den Freitag, malt sich aus, wie es sein wird. Wenn sie zu Hause nackt vor dem Spiegel steht, stellt sie sich vor, Silvester könnte sie so sehen. Sie wirft sich in verschiedene Posen und tut ganz gleichgültig dabei; das ist das Schwierigste an der Sache, es so aussehen zu lassen, als fühle sie sich ganz und gar unbeobachtet.
Hans scheint keine Veränderung an ihr wahrgenommen zu haben, er reagiert weder ungläubig noch gekränkt auf ihre Lüge, sie habe bei einer Freundin übernachtet. Es ist ihr fast unangenehm, dass er sie so behandelt wie immer, gleichbleibend freundlich.
Warum trägst du eigentlich immer diese hässliche Trainingshose, hat Silvester sie einmal gefragt, und wäre sie nicht vor Scham in den Boden versunken, hätte sie ihm womöglich geantwortet, sie fühle sich minderwertig, wie eine schlechte Ware. Ihre Mutter pflegte zu sagen, dass ein richtiger Mann sich nie mit ihr abgeben würde. Aber vielleicht ist Silvester kein richtiger Mann. Und überhaupt, all die Männer, mit denen sie zu tun hatte. Und was ist ein richtiger Mann? Sie weiß ja nicht mal, was eine richtige Frau ist.
Stundenlang liest sie in ihrer neuen Verslehre, und obwohl es sie langweilt, versucht sie durchzuhalten, rezitiert jambische Verse, als wären es magische Formeln:»Wer nie sein Brot mit Tränen aß«. Danach versucht sie es in diesem Versmaß mit eigenen Worten, doch das Gedicht kommt ihr kitschig vor:
Welch Mühsal ists auf ewig
verbannt zu sein ins eigne Fleisch,
Hirte sein und Schaf zugleich,
durch stets die gleiche Tür zu gehen
und nie das Draußen nah zu sehn,
befangen sein und bleiben!
Sie beginnt die Duineser Elegien auswendig zu lernen.
Warum machst du das, fragt Silvester gar nicht beeindruckt.
Dann hab ich die Verse im Kopf.
Wozu?
Stell dir vor, du bist auf einer einsamen Insel und hast kein Buch. Oder im Gefängnis, das gibt doch Trost. In ihren Ohren klingt diese Erklärung einleuchtend. Die ehrliche Antwort würde jedoch lauten, sie träume davon, ihn nicht mit ihrem Körper, sondern nur mit Rilke-Versen zu erobern.
Sie trinkt ihren Kaffee schwarz, raucht Karo, umgeben von blauem Dunst arbeitet sie an ihrer ersten Erzählung, sie kauft sich ein Notizheft und beschreibt alles, was ihr besonders auffällt. Raubvögel im Sturzflug, eine Kinderhand aus einem Fenster winkend, Träume und Albträume, eine Gestalt am Horizont, die näher kommt. Musik zu beschreiben ist das Schwierigste. Die kurzen Texte findet Silvester gelungener, das bist mehr du, sagt er, und obwohl sie sich nicht ganz im Klaren darüber ist, was er meint, freut sie sich. Sie hat das Gefühl, ernsthaft zu arbeiten, denkt über richtige und falsche Wörter nach, versucht Dinge nach ihrer Herkunft zu benennen. Sie kann nicht glauben, dass Rilke die Duineser Elegien mit kühlem Kopf geschrieben hat, doch die Art Fieber, das innere Glühen, das ihr vorschwebt, will sich nicht einstellen. Sie probiert es mit Schlafentzug, streunt bis zum Morgengrauen durch die Straßen, doch das führt bei ihr nur zu bleierner Müdigkeit und einem fruchtlosen Gedankenchaos.
Warum bewirbst du dich nicht bei diesem Institut für Literatur, fragt Silvester.
Sie ist erstaunt, dass er ihr zutraut, von einer Institution für tauglich befunden zu werden, und schickt die Bewerbung ab. Hans fragt sie nicht, sie will sich sein skeptisches Kopfschütteln ersparen.
Seit Tagen liegt sie mit hohem Fieber im Bett, sie hat eine Eierstockentzündung. Seit der Geburt von Julius schlägt sie sich damit herum. Manchmal hat sie das Gefühl, dass ihr Körper mit dieser Entzündung auf Hans reagiert, so kann sie sich ihm entziehen, wenn er mit ihr schlafen will. In ihren Fieberträumen steckt sie vom Bauchnabel abwärts in dem Gehäuse eines Stehaufmännchens, hat weder Füße noch Beine, steht nur trudelnd am Fleck. Die Träume sind so eindringlich, dass sie sich im wachen Zustand vorsichtig an die Füße fasst. Nachts schreckt sie immer wieder hoch, meint an ihrer eigenen Spucke zu ersticken. Tagsüber dringen Geräusche von Julius und Hans durch die Tür, ein mattes Dahintreiben von Worten, sie fühlt sich geborgen — es geht auch ohne sie. Im Fieber kann sie loslassen, die Anspannung löst sich, sie hat das Gefühl, aus einem eisernen Korsett befreit zu werden. Sie malt sich aus, was für eine gute Mutter sie sein wird, stundenlang wird sie Julius Märchen vorlesen, sich geduldig sein Geplapper anhören, ihn lieben, wie sie ihn lieben sollte, ihm ein warmes Nest bieten. Und Hans will sie eine gute Frau sein — doch sobald sie einschläft, stürzt die behagliche Vorstellung zusammen, und sie steckt wieder im Gehäuse, steht trudelnd am Fleck.
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